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„Hi, ich bin gerade gestorben“

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Engel spielen in vielen Trauerkulturen eine große Rolle.
Engel spielen in vielen Trauerkulturen eine große Rolle. © AFP

Manch ein Leser bekennt sich dazu, die New York Times nur wegen der Nachrufe zu kaufen. Diese gehören neben anderem zu den herausragenden Elementen der Zeitung. Nun führt die NYT Interviews mit Prominenten und veröffentlicht die Videos nach deren Tod im Internet.

Von Thomas Schuler

Die Nachrufe der New York Times sind legendär. Dass die Zeitung dafür lange Interviews führt, ebenfalls. Weniger bekannt ist, dass sie die Gespräche seit einiger Zeit mit einer Kamera aufzeichnet und nach Ableben des Interviewten auf die Website stellt. Der Autor und Humorist Art Buchwald war vor fünf Jahren der Erste, und er begann sein Interview mit dem schönen Satz: „Hi, ich bin Art Buchwald, und ich bin gerade gestorben.“ Wie sollten sich die Menschen an ihn erinnern? „Als jemand, der Leute zum Lachen brachte.“ Dabei erzählt Buchwald im Video die traurige Geschichte von seinem langen Sterben. Er litt an Nierenversagen, er verlor ein Bein, und er brach eine Dialyse-Behandlung ab. Er ging in ein Sterbe-Hospiz und dachte, in zwei Wochen sei alles vorbei. Aber nach fünf Monaten lebte er noch immer. Er erhielt viel Besuch, er lachte dann und riss Witze. Im Juli 2006 hat die Times ihn und den Fernseh-Starreporter Mike Wallace in seiner Sommerresidenz besucht; Buchwald starb im Januar 2007. In seinem Nachruf kommt sein Nachbar Wallace ausführlich zu Wort. Wallace starb im April 2012 – sein Video-Nachruf ist der aktuellste. Dass Buchwald so ausführlich über sein Sterben sprach, ist eher ungewöhnlich für einen Nachruf der Times. Denn eigentlich nutzt die Zeitung den Tod als Entschuldigung, um über das Leben zu schreiben. Gute Nachrufe sind kurze Biografien. Eine Besonderheit haben die Videos: Es kommt tatsächlich vor allem der Tote selbst zu Wort. Das ist bei geschriebenen Nachrufen nicht unbedingt der Fall; darin werden Freunde, Feinde und Zeitzeugen ausführlich zitiert.

Den Grundstein für die Nachrufe-Tradition der New York Times hat der Reporter Alden Whitman gelegt. Whitman reiste von 1964 bis 1976 um die Welt und befragte Charles A. Lindbergh, Ho Chi Minh, Pablo Picasso, Mies van der Rohe, Haile Selassie, Graham Greene, Henry Miller, Albert Schweitzer und Harry S. Truman. Anfang der 70er- Jahre erhielt auch der Schriftsteller Stefan Heym eine Anfrage der New York Times für ein Interview. Als Whitman im Vorgespräch die Sorgfalt in der Recherche so sehr betonte, da wurde Heym klar: „Sie besuchen mich, um mein Obituary zu schreiben, meinen Nachruf!“ Die Gespräche waren vertraulich zur Lebzeit des Befragten, erst nach ihrem Tod veröffentlichte Whitman Zitate. Er schrieb Hunderte seiner Nachrufe auf Vorrat und war der Ansicht, ein guter Nachruf benenne auch die Schwächen des Verstorbenen. Diesen Rat befolgte die Times: Sie erwähnte in Whitmans Nachruf auch ein Gerichtsverfahren gegen ihn – und musste prompt eine Berichtigung drucken, weil ein Detail falsch war.

Elf Video-Nachrufe veröffentlicht

Für Heym war der Besuch ein Schlüsselerlebnis. Er wollte das letzte Wort haben und verfasste seine Memoiren. Er schrieb sie in der dritten Person und gab dem fast 1000 Seiten umfassenden Werk den Titel „Nachruf“. Als das Buch 1988 erschien, war Whitman bereits tot, schreibt Heym im Nachwort. Doch das stimmte nicht. 1988 war Whitman im Ruhestand; gestorben ist er zwei Jahre später.

Inzwischen hat die New York Times auf ihrer Internetseite elf Video-Nachrufe veröffentlicht: Die Jazz-Sängerin Odetta und die Politikerin Geraldine A. Ferraro (die erste Frau, die in den USA landesweit für ein politisches Amt kandidierte) sind darunter, außerdem John F. Kennedys Berater und Redenschreiber Theodore C. Sorensen, der kambodschanische Fotograf Dith Pran, der Philantrop Stewart Mott, der Jazz-Gitarrist Les Paul, der Baseball-Spieler Bob Feller, der Schriftsteller und Drehbuchautor Budd Schulberg und der Arbeitskampf-Schlichter Theodore Kheel. Es sind Namen, die nicht jeder sofort einordnen kann – vor allem außerhalb der USA.

Etwa 15 weitere Videos seien fertig produziert und warteten auf ihren Einsatz, sagt Eileen Murphy, eine Sprecherin der New York Times. Namen zu nennen ist natürlich tabu. Sind amerikanische Präsidenten darunter? Oscar-prämierte Hollywood-Schauspieler? Schriftsteller? Selbst allgemeine Beschreibungen der Befragten will Murphy nicht geben und sagt nur soviel: Die Times befrage, „national und international überaus bekannte Personen“ und werde das Projekt fortsetzen.

Die Tradition der Nachrufe geht bis auf den einstigen Verleger Adolph Ochs zurück. Ihm wird eine Vorliebe für große Begräbnisse nachgesagt. Die Särge leitender Redakteure wurden in einer Prozession am Verlagsgebäude vorbei getragen und alle Mitarbeiter hatten davor Spalier zu stehen, berichtet der ehemalige Times-Reporter Gay Talese in „The Kingdom and the Power“, seinem Klassiker über die New York Times.

Nachrufe sind die „Kronjuwelen“

Das Nachruf-Schreiben ist denn auch eine Berufung und Auszeichnung, keine Strafe. Bill McDonald, der heutige Chef des Nachruf-Redaktion, leitete früher die Sektion für Kunst, Freizeit und Kultur und redigierte investigative Recherchen. Dass er seit 2006 nun Nachrufe schreibt, ist keine Degradierung, so als müsste er Leserbriefe redigieren. Was Buchverlagen das Genre der Biografie, das ist den Zeitungen der Nachruf – eine kleine Biografie, eine Form des Porträts, die todsicher eine Nachricht enthält: eben diesen, den Tod. Arnie Warren, ein Leser aus Florida, schrieb McDonald einmal, die Nachrufe seien der einzige Grund, warum er die Times lese: Sie seien „wunderbare Biografien, auf deren Lektüre ich mich freue.“

Richard F. Shepard, der die Nachruf-Redaktion 1986 für ein Jahr leitete, nennt die vorab geschriebenen Nachrufe die „Kronjuwelen der Times“. Zu seinen Zeiten waren drei bis vier Redakteure mit Nachrufen beschäftigt und es lagen rund 2?000 bereit; heute sind es angeblich rund 1?500. Jedes Jahr kommen 250 neue dazu; 50 werden gedruckt. Rund 90?Prozent aller Nachrufe, die auf der Titelseite erscheinen, wurden vorab, also auf Abruf, geschrieben. Laut Shephard schrieb der damalige Chefredakteur Abe Rosenthal einem Leser: „Wenn Du sterben musst, dann ist es besser in der Times zu sterben. Sie müssen wissen, dass die Tageszeit sehr wichtig ist. Ich habe allen meinen Freunden geraten, dass sie Montag bis Freitag so früh wie möglich sterben sollten, vorzugsweise zwischen zehn und zwölf Uhr Mittag.“

Heym schrieb, man werde den von Whitman verfassten Nachruf erst nach seinem Tod lesen – und irrte. Denn als Heym 2001 starb, stand nicht der Nachruf des längst verstorbenen Whitman in der Times, sondern der Artikel eines Kollegen.

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