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[[Datei:Twelvers1 copy copy.png|mini|[[Arabische Kalligrafie|Kalligraphische]] Darstellung der zwölf Imame mit dem Namen des islamischen Propheten [[Mohammed]] in der Mitte]]
[[Datei:Jamkaran Mosque-3855.jpg|mini|Die [[Dschamkarān-Moschee]] bei [[Ghom]], eine der heiligen Stätten der Zwölfer-Schia. Hier soll im 10. Jahrhundert der zwölfte Imam erschienen sein.]]
Die '''Zwölfer-Schia''' ({{arS|الشيعة الإثنا عشرية&lrm;|asch-Schīʿa al-Ithnā ʿAscharīya|DMG=aš-Šīʿa al-Iṯnā ʿAšarīya}}) ist derjenige Zweig innerhalb der [[Schia]], nach dessen Lehre es insgesamt zwölf [[Imam]]e gibt. Der erste von ihnen ist [[ʿAlī ibn Abī Tālib]], der letzte [[Muhammad al-Mahdī]], der in der [[Ghaiba|Verborgenheit]] leben und erst am Ende der Zeiten zurückkehren soll. Die Zwölfer-Schiiten bilden mit 80 % Anteil<ref>Momen: ''Shi'i Islam.'' 2016, S. 219.</ref> die überwältigende Mehrheit der Schiiten, weshalb man sie häufig auch nur ganz allgemein als ''die Schiiten'' bezeichnet. Ihre Gesamtanzahl wird auf 175 Millionen und ihr Anteil an der muslimischen Bevölkerung weltweit auf 11 Prozent geschätzt.<ref>Momen: ''Shi'i Islam.'' 2016, S. 219.</ref> In den Ländern [[Iran]], [[Aserbaidschan]], [[Irak]] und [[Bahrain]] stellen die Zwölfer-Schiiten die Bevölkerungsmehrheit. Daneben leben bedeutende zwölfer-schiitische Minderheiten in [[Pakistan]], [[Indien]], [[Afghanistan]], im [[Libanon]], in [[Nigeria]], [[Indonesien]], [[Tansania]] und der [[Türkei]]. Kleinere Minderheiten existieren in weiteren Ländern Afrikas, Europas, Amerikas und Asiens.<ref>Fığlalı: „İsnâaşeriyye“ in ''Türkiye Diyanet Vakfı İslâm ansiklopedisi''. 2001, Bd. XXIII, S. 146c.</ref>
 
Die Zwölfer-Schia hat eine eigene [[Madhhab|Rechtsschule]], die nach dem sechsten Imam [[Dschaʿfar as-Sādiq]] als [[Dschaʿfarīya|dschaʿfaritisch]] bezeichnet wird. In der Verfassung der Islamischen Republik Iran (Artikel&nbsp;12) ist der Islam der zwölfer-schiitischen, dschaʿfaritischen Richtung als die niemals veränderbare Religion des Staates festgeschrieben.<ref>Siehe Silvia Tellenbach: ''Untersuchungen zur Verfassung der Islamischen Republik Iran vom 15. November 1979.'' Schwarz, Berlin, 1985. S. 64. [http://menadoc.bibliothek.uni-halle.de/iud/content/pageview/267758 Digitalisat]</ref> Zwar pilgern Zwölfer-Schiiten wie andere Muslime auch nach Mekka, doch besitzen sie mit den sogenannten „Heiligen Schwellen“ (''ʿAtabāt muqaddasa'') im [[Irak]] und in [[Iran]] eigene heilige Orte, die Ziele von [[Ziyāra]]-Wallfahrten sind. Charakteristisch für das religiöse Leben der Zwölfer-Schiiten sind die vielfältigen Trauerzeremonien im Gedenken an die Imame und andere Angehörigen der Familie des Propheten [[Mohammed]]. Sie finden ihren Höhepunkt am 10. [[Muharram]], dem sogenannten [[Aschura|ʿĀschūrā]]-Tag, an dem man des [[Märtyrer]]todes von Imam [[al-Husain ibn ʿAlī]] und seiner Verwandten in der [[Schlacht von Kerbela]] gedenkt. Eine Besonderheit des dschaʿfaritischen Rechts ist die zeitlich befristete [[Mutʿa-Ehe]]. Einfache Gläubige, die keine Befähigung zum [[Idschtihād]] haben, haben nach der herrschenden zwölfer-schiitischen Lehre die Pflicht, sich einen Gelehrten zu suchen und ihm in Form von [[Taqlid|Taqlīd]] („Nachahmung, Bevollmächigung“) zu folgen. Dieser [[Mudschtahid]] fungiert dann für sie als [[Mardschaʿ-e Taghlid|Mardschaʿ at-taqlīd]] („Instanz der Bevollmächtigung bzw. Nachahmung“). Die Ausbildung des zwölfer-schiitischen [[Klerus]] erfolgt an speziellen religiösen Hochschulen, die [[Hawza|Hauza]] genannt werden.
 
== Andere Bezeichnungen ==
Die Bezeichnung „Zwölfer“ ''(Iṯnā ʿAšarīya)'' für diejenigen Schiiten, die an die Entrückung und Wiederkehr des zwölften Imams glauben, hat sich erst Ende des 10. Jahrhunderts verbreitet. Die Zwölfer-Schiiten werden auch als [[Imamiten]] bezeichnet, allerdings fallen die beiden Begriffe bedeutungsmäßig nicht völlig zusammen, denn im Mittelalter gab es neben der Zwölfer-Schia noch verschiedene andere imamitische Gruppierungen, die die Anzahl der Imame nicht auf zwölf beschränkten.<ref>Fığlalı: „İsnâaşeriyye“ in ''Türkiye Diyanet Vakfı İslâm ansiklopedisi''. 2001, Bd. XXIII, S. 143a.</ref> Autoren [[Sunniten|sunnitischer]] und [[Zaiditen|zaiditischer]] Ausrichtung bezeichneten diese Richtung der Schia bis zum frühen 13. Jahrhundert auch als ''Qatʿīya''. Der Name wird damit erklärt, dass die Zwölfer-Schiiten im Gegensatz zu anderen Schiiten mit Bestimmtheit (''qaṭʿan'') annahmen, dass der siebte Imam [[Mūsā al-Kāzim]] gestorben sei und seinen Sohn [[ʿAlī ibn Mūsā ar-Ridā]] als Nachfolger designiert habe.<ref>Jarrar: “Al-Manṣūr Bi-Llāh’s Controversy with Twelver Šīʿites.” 2012, S. 326.</ref> Eine weitere, abwertende Bezeichnung, die für die Zwölfer-Schiiten verwendet wird, ist [[Rāfida]].
 
== Verteilung und Anhängerzahlen ==
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| 7. || [[Mūsā al-Kāzim]] (gest. 799)
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| 8. || [[ʿAlī ibn Mūsā ar-Ridā]] (gest. 818)
|-
| 9. || [[Muhammad al-Dschawād]] (gest. 835)
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Kerngedanke der zwölfer-schiitischen Lehre ist der Glaube an die zwölf Imame: Sie gelten als [[ʿIsma|unfehlbar]] und sollen jeweils durch Designation (''naṣṣ'') ihres Vorgängers festgelegt worden sein.<ref>Nasr: „Ithnā ʿAshariyya“ in ''Encyclopaedia of Islam'' Bd. IV, S. 278b.</ref> Der erste Imam ʿAlī ibn Abī Tālib ist nach zwölfer-schiitischem Glauben direkt von [[Mohammed]] eingesetzt worden, und zwar im Frühjahr 632 nach der Rückkehr von der [[Abschiedswallfahrt]] am [[Ghadīr Chumm]]. Die Zwölfer-Schiiten gedenken dieses Ereignisses mit dem Ghadīr-Fest am 18. [[Dhū l-Hiddscha]]. Nach zwölfer-schiitischer Lehre hat ʿAlīs Imamat nicht erst 656 begonnen, als er zum Kalifen erhoben wurde, sondern unmittelbar im Anschluss an den Tod Mohammeds, ohne Unterbrechung (''bilā fāṣila''). Das Bekenntnis zu dieser Lehre gilt als religiöse Pflicht (''farḍ min ad-dīn'').<ref>Eliash: “The Ithnā'asharī-Shī'ī Juristic Theory of Political and Legal Authority”. 1969, S. 17f.</ref>
 
Der schiitische Gläubige hat gegenüber den Imamen die Pflicht zu [[Walāya und Barā'a]], d.&nbsp;h. er soll die Imame und all diejenigen, die ihnen die Treue halten, unterstützen und sich umgekehrt von denjenigen lossagen, die sie hassen.<ref>Sachedina: Art. „Ithnā ʿAsharīyah“. 2009, Bd. III, S. 217b.</ref> Als Gemeinschaft, die ihren Imamen die Treue hält, sehen sich die Zwölfer-Schiiten in der Nachfolge des auserwählten Volkes der [[Israeliten]], das seinen Propheten gegenüber ebenfalls ''Walāya'' übte.<ref>Meir Michael Bar-Asher: ''La place du judaïsme et des juifs dans le shï'isme duodécimain'' in [[Mohammad Ali Amir-Moezzi]] (Hrsg.): ''Islam: identité et altérité; hommage à Guy Monnot'', Brepols, Turnhout, 2013, S. 57–82. Hier S. 74.</ref> Wenn die Bekundung des eigenen Glaubens für den Gläubigen eine Gefahr darstellt, ist er nach der klassischen zwölfer-schiitischen Lehre zur Verheimlichung in Form der [[Taqīya]] befugt.<ref>Nasr: „Ithnā ʿAshariyya“ in ''Encyclopaedia of Islam'' Bd. IV, S. 278a.</ref> Die Zwölfer-Schia hat zahlreiche Überlieferungen zur Taqīya aus der früheren imamitischen Tradition übernommen. Heutige Zwölfer-Schiiten messen diesem Prinzip allerdings zum großen Teil keine besondere Bedeutung mehr zu.<ref>Siehe Lynda Clarke: ''The Rise and Decline of Taqiyya in Twelver Shiʿism.'' in Todd Lawson (Hrsg.): ''Reason and Inspiration in Islam: Theology, Philosophy and Mysticism in Muslim Thought.'' ed. I. B. Tauris, London 2005, S. 46–63. Hier S. 47, 55.</ref>
 
Wie die Propheten sollen die Imame am [[Jüngstes Gericht|Jüngsten Tag]] für die schiitischen Gläubigen Fürsprache (''šafāʿa'') einlegen können, so dass diese von jenseitiger Strafe verschont bleiben.<ref>Sabine Schmidtke: ''Theologie, Philosophie und Mystik im zwölferschiitischen Islam des 9./15. Jahrhunderts: Die Gedankenwelten des Ibn Abī Ǧumhūr al-Aḥsa''ī (um 838–1434/35 – nach 906–1501).'' 2000Brill, Leiden 2000. S. 262.</ref> Die Imame gelten nach zwölfer-schiitischer Lehre außerdem als ''Muhaddathūn'', d.&nbsp;h. als Menschen, die durch [[Engel]] „angesprochen“ werden, die ihnen durch Inspiration göttliches Wissen vermitteln.<ref>Etan Kohlberg: ''The Term muḥaddath in Twelver Shīʿism'' in ''Studia Orientalia memoriae D. H. Baneth dedicata''. Jerusalem 1979. S. 39–47. – Wiederabdruck in Etan Kohlberg: ''Belief and law in Imāmī Shīʿism''. Variorum, Aldershot, 1991. Kapitel 5.</ref> Umgekehrt präsentieren sich bis heute einige zwölfer-schiitische [[ʿUlamā'|Gelehrte]] als Gesprächspartner der Imame, die ihnen durch Träume und Visionen [[Charisma]] übertragen haben.<ref>Rainer Brunner: ''Le charisme des songeurs. Ḥusayn al-Nūrī al-Ṭabrisī et la fonction des rêves dans le shi‘isme duodécimain'' in Mohammad-Ali Amir-Moezzi, Meir M. Bar-Asher, Simon Hopkins, éds.: ''Le shī‘isme imāmite quarante ans après. Hommage à Etan Kohlberg.'' Brepols, Turnhout 2009, S. 95–115. [https://freidok.uni-freiburg.de/dnb/download/9949 Online] Hier S. 109.</ref> [[Vision (Religion)|Visionen]] und Träume von den Imamen spielen bis heute eine wichtige Rolle in der zwölfer-schiitischen Mystik.<ref>Vgl. M. Ali Amir-Moezzi: ''Visions d’imams en mystique duodécimaine moderne et contemporaine'' in E. Chaumont et al. (Hrsg.): ''Autour du regard. Mélanges Gimaret.'' Peeters, Louvain, 2003, S. 97–124. – Neuabdruck in M. Ali Amir-Moezzi: ''La religion discrète. Croyances et pratiques spirituelles dans l’Islam shiʿite''. Paris 2006, S. 253–276. Amir-Moezzi: ''Visions d’imams en mystique duodécimaine moderne''. 2003.</ref>
 
Nach zwölfer-schiitischer Lehre stand die Anzahl der zwölf Imame schon lange vor Entrückung des zwölften Imams fest. Dies wird unter anderem damit begründet, dass sie schon im [[Kitāb Sulaim ibn Qais]] erwähnt werden, das ʿAlīs Anhänger Sulaim zusammengestellt haben soll.<ref>Kohlberg: ''From Imāmiyya to Ithnā-ʿAshariyya''. 1976, S. 532.</ref> Zusammen mit [[Mohammed]] und seiner Tochter [[FatimaFātima bint Muhammad|Fatima]] bilden die zwölf Imame die [[Vierzehn Unfehlbare]]n, die in vielen Überlieferungen als reine und sündlose Lichtgestalten dargestellt werden. Die Zwölfer-Schiiten beziehen sich dabei auf [https://corpuscoranicum.de/index/index/sure/1/vers/1 Sure 33:33]: „Gott möchte ja die Unreinheit von euch nehmen, ihr ‚Leute des Hauses‘ ([[ahl al-bait]]), und euch ganz und gar reinigen“. Die Sonderstellung der Vierzehn Unfehlbaren wird auch mit dem Ereignis der [[Mubāhala]] begründet, bei dem Mohammed seine Tochter Fātima, ihren Ehemann ʿAlī ibn Abī Tālib und deren beiden Söhne Hasan und Husain unter seinen Mantel nahm. Diese fünf Personen werden in der Schia auch als die [[Ahl al-kisā']] („Leute des Mantels“) bezeichnet.
 
=== Der zwölfte Imam: kleine und große Verborgenheit ===
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[[Datei:Masjid al-Sahlah Entrance.jpg|mini|Die Sahla-Moschee in [[Kufa]], einer der Orte, an dem die Herabkunft des zwölften Imams erwartet wird.]]
Der zwölfte Imam hat bei den Zwölfer-Schiiten eine große Anzahl von Beinamen, darunter ''al-Qā'im'' („der sich Erhebende“), ''Sāhib az-zamān'' („Gebieter der Zeit“) und eben al-Mahdī („der Rechtgeleitete“). Wenn er erwähnt wird, ist es üblich die Formel ''ʿAǧǧala Llāhu faraǧahū'' („Möge Gott sein Hervortreten rasch herbeiführen“) zu sprechen.<ref>Fığlalı: „İsnâaşeriyye“ in ''Türkiye Diyanet Vakfı İslâm ansiklopedisi''. 2001, Bd. XXIII, S. 143b.</ref> Der zwölfte Imam ist im [[Glaube (Religion)|Glauben]] der Zwölfer-Schiiten auch das einzig legitime Oberhaupt der [[Muslim]]e. In der Verfassung der Islamischen Republik Iran ist er deshalb auch das theoretische Staatsoberhaupt. Der schiitische Rechtsgelehrte, der als [[FührerOberster desFührer (Iran)|Rahbar]] die Sachwaltung und Leitung der Gemeinschaft übernimmt, herrscht nur in Stellvertretung des zwölften Imams bis zu dessen Wiederkehr aus der Verborgenheit.<ref>Vgl. Artikel 5 der Verfassung, zitiert in Silvia Tellenbach: ''Untersuchungen zur Verfassung der Islamischen Republik Iran vom 15. November 1979.'' Schwarz, Berlin, 1985. S. 62. [http://menadoc.bibliothek.uni-halle.de/iud/content/pageview/267756 Digitalisat]</ref>
 
Über den Ort, an dem der Imam-Mahdī erscheinen soll, gibt es in der Zwölfer-Schia unterschiedliche Überlieferungen. Eine Tradition besagt, dass der sechste Imam Dschaʿfar as-Sādiq vorhergesehen habe, dass die Herabkunft „des Sich Erhebenden“ (''al-Qā'im'') zusammen mit seinen Anhängern und Familienangehörigen in der Sahla-Moschee in [[Kufa]] stattfinden und er sich dort auch weiter aufhalten soll.<ref>Muhammad Bāqir al-Maǧlisī: ''Biḥār al-Anwār''. 3. Aufl. Dār Iḥyāʾ at-turāṯ al-ʿArabī, Beirut, 1983. Bd. LII, S. 376, Nr. 177. [https://archive.org/stream/fkr_behar002/%D8%A8%D8%AD%D8%A7%D8%B1%20%D8%A7%D9%84%D8%A3%D9%86%D9%88%D8%A7%D8%B1%20%D8%A7%D9%84%D8%AC%D8%A7%D9%85%D8%B9%D8%A9%20%D9%84%D8%AF%D8%B1%D8%B1%20%D8%A3%D8%AE%D8%A8%D8%A7%D8%B1%20%D8%A7%D9%84%D8%A7%D8%A6%D9%85%D8%A9%20%D8%A7%D9%84%D8%A3%D8%B7%D9%87%D8%A7%D8%B1%20-%20%D8%A7%D9%84%D8%B4%D9%8A%D8%AE%20%D9%85%D8%AD%D9%85%D8%AF%20%D8%A8%D8%A7%D9%82%D8%B1%20%D8%A7%D9%84%D9%85%D8%AC%D9%84%D8%B3%D9%8A%20-%20%D8%AC052%20%D8%8C%20%D8%AA%D8%A7%D8%B1%D9%8A%D8%AE%20%D8%A7%D9%84%D8%AD%D8%AC%D8%A9%20(%D8%B9)#page/n379 Digitalisat]</ref> Nach einer anderen Überlieferung dagegen, die [[asch-Schaich al-Mufīd]] überliefert, wird der Mahdi an der [[Kaaba]] in Mekka herabsteigen und erst dann, von Engeln begleitet, nach Kufa ziehen.<ref>Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 46f.</ref> Nach verschiedenen zwölfer-schiitischen Traditionen, die im Milieu der [[Ghulāt]] entstanden sind, folgt auf das endzeitliche Wiedererscheinen des Mahdī die Rückkehr (''raǧʿa'') des Propheten Mohammed, der anderen elf Imame und einer ungenannten Anzahl schiitischer Gläubiger, die bei dieser Gelegenheit an ihren früheren Gegnern Rache üben.<ref>Vgl. dazu Colin P. Turner: ''The “Tradition of Mufaḍḍal” and the doctrine of the rajʿa: evidence of ghuluww in the eschatology of Twelver Shiʿism?'' in ''Iran: Journal of the British Institute of Persian Studies'' 44 (2006), 175–195.</ref>
 
=== Besonderheiten in der Theologie ===
Die zwölfer-schiitische Glaubenslehre weist einige Besonderheiten auf, so das Konzept des Badā' und die Zurückweisung der „Schau Gottes“ (''ruʾyat Allāh''). Das Konzept des Badā', das aus der imamitischen Tradition kommt, betrifft die Frage der [[Prädestination]]. Anders als die Sunniten und die meisten anderen Schiiten gehen die Imamiten davon aus, dass Gott seine Entscheidungen je nach den Umständen ändern kann. Badā' ist vor allem ein Instrument der Vergangenheitsbewältigung. Wann immer Dinge anders gelaufen sind, als vorhergesagt, lässt sich dies damit erklären, dass es Gott so gut dünkte (''badā la-hū''). Zur Begründung der Badā'-Lehre berufen sich die Imamiten auf [https://corpuscoranicum.de/index/index/sure/13/vers/39 Sure 13:39]: „Gott löscht aus, was er will, oder lässt es bestehen. Bei ihm ist die Urschrift.“ Der achte Imam ʿAlī ar-Ridā wird mit der Aussage zitiert: „Gott hat nie einen Propheten ohne den Auftrag gesandt, den Wein zu verbieten und den Badā' Gottes zu lehren.“<ref>Wilferd Madelung: „Badāʾ“ in [[EncyclopaediaEncyclopædia Iranica]] Bd. III, S. 354f. [http://www.iranicaonline.org/articles/bada-theological-term Online].</ref>
 
Hinsichtlich der [[Schau Gottes]] (''ruʾyat Allāh''), also der Frage, ob die Menschen Gott im Diesseits und im Jenseits mit ihren Augen sehen können oder nicht, haben die zwölfer-schiitischen Theologen in Übernahme der [[Muʿtazila|muʿtazilitischen]] Lehre eine ablehnende Position eingenommen, im Gegensatz zu den sunnitischen Theologen, die diese Frage bejaht haben.<ref>Georges Vajda: „Le Problème de la vision de Dieu ''(ruʾya)'' d’après quelques auteurs šīʿites duodécimains“ in: ''Le Shîʿisme imâmite. Colloque de Strasbourg (6-9 mai 1968)''. Presses universitaires de France, Paris, 1970. S. 31–54.</ref>
 
=== Religiöse Grundlagentexte ===
Wie bei den [[Sunniten]], gelten bei den Zwölfer-Schiiten der Koran und die [[Hadith]]e als die wichtigsten religiösen Grundlagentexte. Schon seit ihren Anfängen ist die Zwölfer-Schia mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie den Korantext für unvollständig hält.<ref>Muhammad Ismail Marcinkowski: "Some Reflections On Alleged Twelver Shīʿite Attitudes Toward the Integrity of the Qur'ān". in ''The Muslim World'' 91 (2001,) 137–154. Hier S. 144.</ref> Tatsächlich gibt es schiitische Hadithe, die davon berichten, dass der Korantext an einzelnen Stellen von den Gegnern der Schia verfälscht wurde. So soll zum Beispiel in [https://corpuscoranicum.de/index/index/sure/3/vers/33 Sure 3:33]: „Gott hat Adam und Noah und die Sippe Abrahams und die Sippe ʿImrāns vor den Menschen in aller Welt auserwählt“ ursprünglich hinter „die Sippe ʿImrāns“ die Phrase „und die Sippe Mohammeds“ gestanden haben.<ref>Momen: ''An Introduction to Shiʿi Islam.'' 1985, S. 172.</ref> Eine kleine Minderheit von Zwölfer-Schiiten hat sogar versucht zu zeigen, dass ganze Suren aus dem Koran gestrichen wurden.<ref>Vgl. dazu Brunner: „Die Schia und die Koranfälschung“. 2001.</ref> Die Mehrheit der Zwölfer-Schiiten nimmt jedoch an, dass der Text des Korans korrekt und auch vollständig ist. Zu den bekanntesten zwölfer-schiitischen Korankommentaren gehören der ''Tafsīr'' von ʿAlī ibn Ibrāhīm al-Qummī (gest. 919), ''at-Tibyān fī tafsīr al-Qurʾān'' von [[Abū Dschaʿfar at-Tūsī]] (gest. 1067), ''Maǧmaʿ al-bayān'' von [[at-Tabrisī]] (gest. 1154) und die beiden modernen Werke ''al-Mīzān'' von dem Iraner [[Allameh Tabatabai]] (gest. 1981) und ''Min waḥy al-Qurʾān'' von dem Libanesen [[Muhammad Hussein Fadlallah|Muhammad Husain Fadlallāh]] (gest. 2010).
 
Da die Imame nach der zwölfer-schiitischen Lehre als [[ʿIsma|unfehlbar]] gelten, haben Nachrichten ''(aḫbār)'' über Aussprüche und Handlungen von ihnen den gleichen Stellenwert wie Hadithe. Berichte über den Propheten Mohammed werden gewöhnlich nur dann als authentisch akzeptiert, wenn sie von einem der Imame überliefert sind. Die meisten anderen [[Sahāba|Prophetengefährten]] werden dagegen als unzuverlässig betrachtet, weil sie das Kalifat von [[Abū Bakr]], [[ʿUmar ibn al-Chattāb]] und [[ʿUthmān ibn ʿAffān]] unterstützt haben.<ref>Momen: ''An Introduction to Shiʿi Islam.'' 1985, S. 173f.</ref>
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Die wichtigsten Heiligen Stätten der Zwölfer-Schia befinden sich aber im Irak. Es sind dies:
* der [[Imam-Husain-Schrein]] in [[KerbalaKerbela]]
* der [[Imam-Ali-Moschee (Nadschaf)|Imam-ʿAlī-Schrein]] in [[Nadschaf]]
* der [[al-Askari-Schrein|al-ʿAskarī-Schrein]] in [[Samarra]] und
* der [[al-Kazimiyya-Moschee|al-Kāzimīya-Schrein]] in [[al-Kazimiyya]], einem Vorort von Bagdad.
Zusammengenommen bilden diese Orte die sogenannten „Heiligen Schwellen“ (''ʿAtabāt muqaddasa'') der Schia.<ref>Vgl. Hamid Algar: „ʿAtabāt“ in [[EncyclopaediaEncyclopædia Iranica]] Bd. II, S. 902–904. [http://www.iranicaonline.org/articles/atabat Online]</ref> Sie werden jedes Jahr von Tausenden von schiitischen Pilgern aus aller Welt besucht und gehören zu den wichtigsten Zentren der schiitischen Gelehrsamkeit. Ein großer Teil der an den ʿAtabāt lebenden Mullās und Āyatollahs stammt nicht aus dem Irak, sondern aus Iran und anderen islamischen Ländern.<ref>Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 170.</ref>
 
[[Datei:Fatima Masuma Qum Wide.jpg|mini|[[Schrein der Fatima Masuma|Schrein der Fātima Maʿsūma]] in [[Ghom]]]]
Bedeutende Heilige Stätten, zu denen die Zwölfer-Schiiten Besuchswallfahrten unternehmen, befinden sich außerdem in Iran. Hierzu gehören der [[Imam-Reza-Schrein]] in [[Maschhad]] sowie die [[Dschamkarān-Moschee]] bei Ghom, die an der Stelle errichtet wurde, an der im 10. Jahrhundert einmal der zwölfte Imam erschienen sein soll. In Iran werden auch Besuchswallfahrten zu den Gräbern von [[Imamzade]]s unternommen. Bei den Imamzades handelt es sich um Kinder und Nachkommen von einem der Imame. Der bekannteste und wichtigste Imamzade-Schrein ist der [[Schrein der Fatima Masuma|Schrein der Fātima Maʿsūma]] in [[Ghom]]. Ein Ort, der erst in den letzten Jahrzehnten größere Bedeutung als Heiliger Ort der Schiiten erhalten hat, ist der [[Schrein Zainab bint Alis|Schrein von Saiyida Zainab]] im Süden von [[Damaskus]].
 
Einer der bedeutendsten zwölfer-schiitischen heiligen Orte in Indien ist der Dargāh-i Hazrat-i ʿAbbās in [[Lucknow]]. Hier befindet sich seit dem späten 18. Jahrhundert als [[Reliquie]] die Silberspitze des Banners von al-Husain, das dessen Bruder [[al-ʿAbbās ibn ʿAlī]] in der Schlacht von Kerbela getragen haben soll, bis er am 5. Muharram fiel. Ein schiitischer Pilger aus Lucknow soll sie auf dem ehemaligen Schlachtfeld ausgegraben und dann in seine Heimatstadt gebracht haben, nachdem ihm al-ʿAbbās im Traum erschienen war. Repliken dieser Standartenspitze, die in einer Zeremonie während des 5. Muharram im physischen Kontakt mit der Originalrelique geweiht werden, finden Verwendung in den großegroßen Muharram-Prozessionen in Lucknow und sind auf die verschiedenen schiitischen Gebetsstätten der Stadt verteilt.<ref>Hartung: ''„Überall ist Kerbala“''. 2005, S. 275f.</ref>
 
== Feste und Trauerzeremonien ==
[[Datei:Eid al-Ghadeer in Fatima Masumeh Shrine- Iran 2016 by tasnimnews.com 04.jpg|mini|links|Ghadīr-Fest am Schrein der Fātima Maʿsūma in Ghom]]
Die wichtigsten Festtage der Zwölfer-Schiiten neben dem [[Islamisches Opferfest|Islamischen Opferfest]] und dem [[Fest des Fastenbrechens]] sind der [[Aschura|ʿĀschūrā]]-Tag am 10. [[Muharram]], das Ghadīr-Fest am 18. [[Dhū l-Hiddscha]] und das [[Mubāhala]]-Fest am 24. Dhū l-Hiddscha. Mit dem Ghadīr-Fest gedenken die Zwölfer-Schiiten der Einsetzung ihres ersten Imams ʿAlī ibn Abī Tālib am [[Ghadīr Chumm]] durch Mohammed. Das Mubāhala-Fest erinnert an das Ereignis der [[Mubāhala]], bei dem nach zwölfer-schiitischer Auffassung die Sonderstellung der Familie des Propheten und der Vierzehn Unfehlbaren begründet wurde. DerʿĀschūrā-Tag ist ein Trauertrag. Er erinnert an die [[Schlacht von Kerbela]] ein, bei der der dritte Imam al-Husain und seine Gefährten durch die Truppen des [[Umayyaden|umaiyadischen]] Kalifen [[Yazid I.|Yazīd]] zu Tode kamen. Diese Schlacht soll am zehnten Tag des Monats Muharram stattgefunden haben.
 
[[Datei:Ta'zieh in Iran 06.jpg|mini|[[Ta'ziehTaʿziye|Taʿziya]]-Darbietung in [[Buschehr]] am ʿĀschūrā-Tag 2017]]
Zum Gedenken an die Schlacht von Kerbela werden am Anfang des Muharram von den Zwölfer-Schiiten aufwendige Trauerzeremonien abgehalten. In dieser Zeit finden insbesondere die [[Taʿziye]] („Beileidsbezeugung, Tröstung“) genannten Passionsspiele statt. Sie gelangen am ʿĀschūrā-Tag zum Höhepunkt und Abschluss. Hierbei geißeln sich viele schiitische Gläubige und klagen über die unterlassene Hilfe, die al-Husain das Leben kostete. Charakteristisch ist hierbei der Gedanke des [[TauwābūnTawwabun|Büßertums]]. Das kollektive Vergießen von Tränen ist bis heute unverzichtbarer Bestandteil der jährlichen Trauerfeierlichkeiten zum Gedächtnis an den Märtyrertod al-Husains.<ref>Purnaqcheband: ''Das Leiden der Imame aus der Sicht der Zwölferschia.'' 2008, S. 146.</ref> Teilweise kommt es bei diesen Passionsfeiern zu blutigen Selbstkasteiungen, bei denen sich die Gläubigen mit Schwertern am Kopf verletzen. Allerdings haben in den letzten Jahrzehnten mehrere schiitische Gelehrte diese [[Tatbīr]] genannten Riten verboten, weil sie ihrer Auffassung nach die Zwölfer-Schia in Verruf bringen.<ref>Szanto: „Beyond the Karbala Paradigm“. 2013, S. 75f.</ref>
 
[[Datei:Annual ritual observed on the 10th day of Muharram in Al Manama Bahrain.jpg|mini|links|[[Tatbīr]] in Bahrain]]
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Bei den Trauerzeremonien werden meist auch spezielle Trauergedichte rezitiert. In Iran heißen diese Rezitationsveranstaltungen ''Rouze-Chāni'' („Rauḍa-Lesung“). Der Name ist von dem Titel des Buches ''Rauḍat aš-šuhadāʾ'' („Garten der Märtyrer“) von Husain Wāʿiz Kāschifī (gest. 1502), abgeleitet, eines [[Martyrologium]]s, das ursprünglich bei diesen Gedenkfeiern im Mittelpunkt stand, heute aber kaum noch eine Rolle spielt. Die Länge von ''Rouze-Chāni''-Veranstaltungen variiert von zwei Stunden bis zu einer ganzen Nacht. Manchmal finden solche Veranstaltungen auch außerhalb des Monats Muharram an Freitagen oder Todestagen anderer schiitischer Persönlichkeiten statt.<ref>Vgl. Gustav Thaiss: „Rawza Khvānī“ in John L. Esposito (Hrsg.): ''The Oxford Encyclopedia of the Islamic World.'' 6 Bde. Oxford 2009. Bd. IV, S. 510–512.</ref>
 
Trauerzeremonien und Taʿziye-Darbietungen werden häufig in speziellen Versammlungshäusern abgehalten. In Iran und Zentralasien werden solche Gebäude ''Takye-Chāne'', ''Taʿziye-Chāne'' oder [[Hoseiniye|Husainīya]] genannt. In Südindien, so besonders in Andhra Pradesh, nennt man sie ''ʿĀschūrā-Chāna'', in Nordindien verwendet man für sie solche Namen wie ''Madschlis-Chāna'', ''ʿAzā-Chāna'', ''Imāmbārā'' oder ''Imāmbārhā''. Speziell in Pakistan bezeichnet man diese Gebäude als ''Imāmbārgā''. Auch die heutigen zwölfer-schiitischen Migrantengemeinden in Afrika, Europa, Nordamerika, Australien und in der [[Karibik]] errichten weiter Gebäude in dieser Tradition.<ref>Keshani: ''Architecture and the Twelver Shi'i tradition''. 2006, S. 219a.</ref>
 
== Besonderheiten in der Normenlehre ==
[[Datei:Turbat ul-Husayniaya - Grand mosuqe of Nishapur.JPG|mini|Gebetssiegel aus Erde vom Grab al-Husains, wie sie von Zwölfer-Schiiten beim Gebet verwendet werden, in der Großen Moschee von [[Nischapur]]]]
Die Zwölfer-Schiiten haben eine eigene [[Madhhab|Lehrrichtung]] in der Normenlehre, die nach dem sechsten Imam ''dschaʿfaritisch'' genannt wird. Unterschiede gegenüber den sunnitischen Lehrrichtungen zeigen sich vor allem im rituellen Bereich. Eine Besonderheit beim [[Salāt|rituellen Gebet]] ist die Verwendung von Gebetssiegeln aus Erde vom Grab al-Husains in Kerbela, die in der Zwölfer-Schia als besonders heilig gilt. Diese Gebetssiegel, die auf Arabisch ''Turba Husainīya'' bzw. auf Persisch ''muhr-i namāz'' genannt werden, werden bei der [[Sudschūd|Prosternation]] im Gebet von den schiitischen Gläubigen mit der Stirn berührt. Der sechste Imam Dschʿfar as-Sādiq soll im 8. Jahrhundert die Rechtmäßigkeit dieser Praxis bestätigt haben.<ref>Hartung: ''„Überall ist Kerbala“''. 2005, S. 262f.</ref> Über die Gebetssiegel sowie über [[Misbaha|Gebetsketten]], die aus vom Grab al-Husains stammender Erde gefertigt sind, suchen die Zwölfer-Schiiten die solcher Erde angeblich innewohnende [[Baraka (Segenskraft)|Segenskraft]] aufzunehmen.<ref>Hartung: ''„Überall ist Kerbala“''. 2005, S. 265.</ref> Für die Fertigung dieser rituellen Gegenstände wird nicht nur Erde aus Kerbela verwendet, sondern manchmal auch Erde von anderen Orten, die mit den Imamen oder Imamzades verbunden sind, wie Nadschaf, Medina, Maschhad und Ghom; Erde aus Kerbela wird allerdings in jedem Fall bevorzugt.<ref>Hartung: ''„Überall ist Kerbala“''. 2005, S. 266f.</ref> Eine Besonderheit, die die Zwölfer-Schiiten mit anderen Schiiten teilen, ist die zweimalige Einfügung der Formel ''Ḥaiya ʿala ḫairi l-ʿamal'' („Eilt zur besten Handlung“) beim [[Adhān|ersten]] und bei der [[Iqāma|zweiten Gebetsruf]].
 
Besonderheiten zeigen sich auch bei den [[Tahāra|Reinheitsbestimmungen]]. Im Unterschied zu den Sunniten und auch den [[Zaiditen]] erlauben sie bei der [[Wudū'|rituellen Waschung]] nicht das bloße [[al-Mash ʿalā l-chuffain|Überstreichen der Schuhe]], sondern bestehen darauf, dass die Füße gewaschen werden.<ref>Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 175.</ref> Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass sie im Gegensatz zu den meisten anderen islamischen Gruppen den Austritt von [[Präejakulat]] ''(maḏy)'' nicht als ein Ereignis betrachten, das die rituelle Reinheit zerstört. Diese Sichtweise wird unter anderem mit einem Hadith begründet, wonach ʿAlī ibn Abī Tālib, der „ein Mann war, der sehr viel Präejakulat ausstieß“ ''(kāna raǧulan maḏḏāʾan)'', deswegen beim Propheten nachfragen ließ und jener darauf zur Antwort gab, dass dies nichts ausmache ''(laisa bi-š-šaiʾ)''.<ref>Vgl. [[al-ʿAllāma al-Hillī]]: ''Muntahā al-maṭlab fī taḥqīq al-maḏhab.'' Band 1. Maǧmaʿ al-Buḥūṯ al-Islāmīya, Mašhad 1412q (= 1992), S. 190 f. ''(al-maqṣad aṯ-ṯānī fī l-wuḍūʾ)''.</ref> Mehr als bei den Sunniten wird bei den Zwölfer-Schiiten außerdem die Unreinheit von [[Kāfir|Ungläubigen]] betont. Sie gelten als [[Nadschāsa|Nadschis]], also als unrein.<ref>Savory: „‘The Added Touch’: Ithnā ʿAsharī Shi'ism as a Factor in the Foreign Policy of Iran“. 1986, S. 421f.</ref>
 
Zwar gilt der [[Haddsch]] nach [[Mekka]] bei den Zwölfer-Schiiten als religiöse Pflicht, doch hat er nicht den gleichen Stellenwert im religiösen Leben wie bei den Sunniten, weil [[Ziyāra|Besuchswallfahrten]] zu den Gräbern der Imame und anderer bedeutender Angehöriger der Prophetenfamilie eine ebenso wichtige Rolle spielen. Schiiten, die nach Mekka pilgern, werden zum Beispiel angewiesen, bei dieser Gelegenheit unbedingt auch die Gräber Mohammeds, der Prophetenfamilie und der Imame in [[Medina]] zu besuchen.<ref>Momen: ''An Introduction to Shiʿi Islam.'' 1985, S. 180.</ref>
 
Zusätzlich zur [[Zakāt]] wird bei den Zwölfer-Schiiten auch der sogenannte Chums („Fünft“) eingezogen, eine Steuer in Höhe von 20 Prozent auf allen Erwerb und Gewinn. Allerdings werden alle Ausgaben im Zusammenhang mit der Unterstützung der eigenen Familie, einschließlich Erziehung, Eheschließung usw. bei der Berechnung abgezogen. Grundlage für die Chums-Institution ist die koranische Aussage in Sure [https://corpuscoranicum.de/index/index/sure/8/vers/41 Sure 8:41]: „Wenn ihr irgendwelche Beute macht, gehört der fünfte Teil davon Gott und dem Gesandten und den Verwandten, den Waisen, den Armen und dem, der unterwegs ist.“ Nach der herrschenden Lehre ist dieser Vers so zu interpretieren, dass der Chums zu gleichen Teilen auf die sechs genannten Empfangsgruppen aufgeteilt werden muss. Dabei bilden der Anteil Gottes, der des Propheten und der der „Verwandten“ – also drei Sechstel des Chums – zusammengenommen den sogenannten „Anteil des Imams“ (''sahm-i imām''), während die anderen drei Sechstel für die Waisen, Bedürftigen und Reisenden aus der Nachkommenschaft des Propheten ausgegeben werden sollen und deswegen „Anteil der [[Sayyid]]s“ (''sahm-i sādāt'') genannt werden.<ref>Vgl. Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 136.</ref> Über die Verwendung des „Anteils des Imams“ in der Zeit nach dessen Entrückung gibt es unter den zwölfer-schiitischen Gelehrten unterschiedliche Auffassungen (siehe unten).
 
Hinsichtlich des Familienrechts ist eine bekannte Besonderheit der Zwölfer-Schiiten, dass sie die zeitlich befristete [[Mutʿa-Ehe]] für zulässig halten. Im Erbrecht unterscheiden sie sich dadurch von den sunnitischen Lehrrichtungen, dass sie auch Nachkommen weiblicher Angehöriger für erbberechtigt halten.<ref>Vgl. Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 176.</ref> Bei den [[Hadd-Strafe]]n gibt es die Besonderheit, dass nach der schiitischen Lehre bei der [[Amputation]] ''(qaṭʿ)'' der rechten Hand nicht die ganze Hand abgetrennt wird, sondern nur die vier Finger. Entsprechend werden bei der Kreuzamputation auch nur vier Finger und der Vorderfuß abgetrennt.<ref>Vgl. Rudolph Peters: ''Crime and Punishment in Islamic Law. Theory and Practice from the Sixteenth to the Twenty-first Century''. Cambridge: Cambridge University Press 2005, S. 36.</ref> Ein offensiver [[Dschihad]] (anders als der defensive Dschihad) darf nach Auffassung der meisten zwölfer-schiitischen Rechtsgelehrten nur mit Zustimmung des verborgenen Imams geführt werden.<ref>Savory: „The Export of Ithna Ashari Shi'ism“. 1990, S. 18.</ref>
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== Die sozial-religiöse Organisationsstruktur ==
=== Untergruppen ===
Innerhalb der Zwölfer-Schia gibt es bis heute zwei Untergruppen, die rationalistische Usūlīya und die traditionalistische Achbārīya, wobei erstere die überwältigende Mehrheit stellt. Die Usūlīya ist nach den [[Usūl al-fiqh]], den „Quellen des Rechtsfindung“, benannt, weil diese bei ihr eine zentrale Rolle spielen. Als „Quellen des Rechtsfindung“ gelten bei ihr der [[Koran]], die Traditionen des Propheten und der Imame, der Konsens ([[Idschmāʿ]]) und der Vernunftbeweis ''(dalīl al-ʿaql)''.<ref>Ahmad Kazemi Moussavi: ''The Establishment of the Position of Marja'iyyat-i Taqlid in the Twelver-Shi'i Community''. in ''Iranian Studies'' 18/1 (1985), 35–51. Hier S. 35f.</ref> Der Analogieschluss ([[Qiyās]]) wird dagegen abgelehnt. Einige moderne UsūlīsVertreter der Usūlīya wie [[Jusuf Sanei|Yusof Sanei]] gehen so weit, dass sie Hadithe nur dann akzeptieren, wenn sie ihrer Ansicht nach mit den zentralen Werten des Korans und der Vernunft ''(ʿaql)'' übereinstimmen.<ref>Vgl. Hamid Mavani: ''Paradigm Shift in Twelver Shi‘i Legal Theory (uṣūl al‐fiqh): Ayatullah Yusef Saanei'' in ''Muslim World'' 99/2 (2009), 335–355. Hier S. 345.</ref> Die [[Achbārīya|Achbārīs]] beharren im Gegensatz zu den Usūlīs auf der schriftlichen Tradition ''(naql)'' der Religion und gestehen der Vernunft keine Beweiskraft zu. Das Wort ''aḫbār'', nach dem die Achbārīs benannt sind, ist die Mehrzahl des arabischen Worts ''ḫabar'' („Nachricht“) und wird synonym für die Hadithe verwendet.
 
Der Gegensatz zwischen Traditionalisten und den Rationalisten innerhalb der Zwölfer-Schia ist sehr alt. Er wird schon bei [[asch-Schahrastānī]] (gest. 1153) erwähnt, allerdings bezeichnet er die zwölfer-schiitischen Rationalisten nicht als Usūlīya, sondern nach dem [[Kalām]], der rationalistischen Theologie, als Kalāmīya. Zwischen beiden Gruppen, so erklärt er, „waltet das Schwert und der [[Takfīr|Vorwurf des Unglaubens]]“<ref>Aš-Šahrastānī: ''Al-Milal wa-niḥal''. 1956, Bd. I, S. 154 – deutsche Übersetzung: Th. Haarbrücker, Bd. I, S. 198.</ref>. Heute bilden die Achbārīs nur noch eine kleine Minderheit innerhalb der Zwölfer-Schia. Eine größere Rolle spielen sie allein in Bahrain. Daneben sind sie noch im Gebiet von Basra im Süd-Irak und in Indien (Hyderabad) anzutreffen.
 
Zwar standen die frühen zwölfer-schiitischen Theologen dem [[Sufismus]] stark ablehnend gegenüber, und auch heute noch gibt es Gelehrte, die an dieser Position festhalten,<ref>N. Pourjavady: ''Opposition to Sufism in Twelver Shiism''. 1999, S. 614–619, 621-623.</ref> doch hat sich nach dem [[Mongolensturm]] eine zweite Strömung innerhalb der Zwölfer-Schia herausgebildet, die versucht hat, schiitische und sufische Lehren miteinander zu harmonisieren.<ref>N. Pourjavady: ''Opposition to Sufism in Twelver Shiism''. 1999, S. 619–621.</ref> Mit der [[Niʿmatullāhīya]] besteht seit dem 14. Jahrhundert auch ein eigener zwölfer-schiitischer [[Tarīqa|Sufi-Orden]]. Eine weitere mystische Unterströmung innerhalb der Zwölfer-Schia ist der von [[Ahmad al-Ahsā'ī]] (gest. 1826) begründete [[Schaichismus]]. Innerhalb dieser Strömung hat sich im 19. Jahrhundert der [[Babismus]] herausgebildet, eine Vorform der [[Bahaitum|Bahai-Religion]]. Eine zwölfer-schiitische Organisation, die sich explizit gegen das Bahaitum richtet, ist die in den frühen 1950er Jahren gegründete [[Hojjatieh|Hodschatieh]].
 
Eine eigene Untergruppierung innerhalb der Zwölfer-Schiiten mit ethnischer Ausrichtung sind die zwölfer-schiitischen Khojas. Wie die [[Ismailiten|ismailitischen]] Khojas sind sie ursprünglich aus einer [[Hinduismus|hinduistischen]] Händlerkaste, den Lohanas, hervorgegangen.<ref>Mirza: ''Travelling Leaders and Connecting Print Cultures.'' 2014, S. 461.</ref> Heute leben zwölfer-schiitische Khojas vor allem in Indien (40.000), Pakistan (20.000), Ostafrika (ca. 20.000) und in der westlichen Diaspora (USA 20.000, Kanada, Europa). Sie pflegen sehr stark ihre kulturelle Identität, die auf die [[Gujarati]]-Sprache, Handelsaktivitäten und [[Wohltätigkeit]] für die eigene Gemeinschaft gegründet ist, und setzen sich damit gegenüber anderen Zwölfer-Schiiten ab.<ref>Mirza: ''Travelling Leaders and Connecting Print Cultures.'' 2014, S. 458, 460.</ref> Allerdings bestehen auch enge Beziehungen zur zwölfer-schiitischen Gelehrsamkeit im Irak. Die verschiedenen zwölfer-schiitischen Khoja-Gemeinden haben sich 1976 in der ''World Federation of Khoja Shia Ithna-Asheri Muslim Communities'' mit Sitz in London zusammengeschlossen.<ref>Mirza: ''Travelling Leaders and Connecting Print Cultures.'' 2014, S. 465.</ref> Eine weitere Organisation dieser Gruppierung ist das 1991 gegründete ''World Islamic Network'' (WIN) mit Sitz in [[Mumbai]] (Bombay), das sich um die Verbreitung zwölfer-schiitischer Literatur in englischer Sprache bemüht und ein eigenes Fernsehprogramm unterhält, das rund um die Uhr sendet.<ref>Mirza: ''Travelling Leaders and Connecting Print Cultures.'' 2014, S. 466–469.</ref> Die Gruppierung hat auch eine eigene Gujarati-sprachige Zeitschrift mit dem Titel ''Isna ‘Ashari''. Sie erscheint seit 1947 in Bombay.<ref>Mirza: ''Travelling Leaders and Connecting Print Cultures.'' 2014, S. 464.</ref>
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Nach der herrschenden Lehre der Usūlīs liegt die Verantwortung für die Interpretation der [[Scharia]] nach der Entrückung des zwölften Imams bei den schiitischen Rechtsgelehrten. Sie stellen insofern auch die Repräsentanten des Verborgenen Imams dar.<ref>Nasr: „Ithnā ʿAshariyya“ in ''Encyclopaedia of Islam'' Bd. IV, S. 278a.</ref> Als Rechtsgelehrter (''faqīh'') gilt nur derjenige, der sich einer Ausbildung an einer traditionellen schiitischen Religionshochschule ([[Hawza|Hauza]]) unterzogen und dort die Prinzipien der Rechtsfindung studiert hat. Nach Abschluss dieser Ausbildung erhält er die Autorisierung zum [[Idschtihād]], also zur eigenständigen Rechtsfindung. Ein Gelehrter, der eine solche Autorisierung besitzt, wird als [[Mudschtahid]] bezeichnet. Das Tor zum Idschtihād gilt nach der Usūlī-Lehre als stets geöffnet.
 
Schiitische Gläubige, die keine Befähigung zum Idschtihād haben, haben nach der Lehre der Usūlīs die Pflicht, sich einen lebenden Mudschtahid zu suchen und ihm in Form von [[Taqlid|Taqlīd]] („Nachahmung, Bevollmächigung“) zu folgen. Dieser Mudschtahid fungiert dann für sie als [[Mardschaʿ-e Taghlid|Mardschaʿ at-taqlīd]] („Instanz der Bevollmächtigung bzw. Nachahmung“). Der Mardschaʿ nimmt dann die Rolle des „Nachgeahmten“ ''(muqallad)'' ein und der Anhänger die Rolle des „Nachahmenden“ ''(muqallid)''. Diese Wahl ist allerdings nicht bindend. Nach der Usūlī-Lehre, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, darf es eigentlich nur einen Mardschaʿ geben, nämlich den Meistwissenden ''(aʿlam)'', allerdings ist bis heute umstritten, wie sich die Qualifikation der „Meistwissendenschaft“ (''aʿlamīyat'') ermitteln lässt. Deshalb gibt es heute eine größere Anzahl von Mardschaʿs.<ref>Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 135.</ref>
 
Der Mardschaʿ erteilt seinen Anhängern in religiösen Fragen Auskunft und Rat in Form von [[Fatwa]]s. Missfällt die Fatwa dem Muqallid, so ist es legitim, dass er sich einen anderen sucht. Stirbt ein Mardschaʿ, so werden all seine Fatwas unwirksam. In der Regel findet der Kontakt zwischen dem Muqallid und seinem Mardschaʿ über ein Büro oder einen lokalen Repräsentanten, den [[Wakīl]], des Mardschaʿ statt, in selteneren Fällen durch eine persönliche Audienz beim Mardschaʿ selbst. Telefon, [[Internet]] und [[E-Mail]] spielen in der Kommunikation zwischen dem Mardschaʿ und seinen Anhängern eine zunehmend größere Rolle. Seit Ende der 1990er Jahre unterhalten viele Mardschaʿs eigene [[Website]]s, auf denen sie Fatwas zu unterschiedlichen Lebensfragen anbieten.<ref>Vgl. Stephan Rosiny: ''The Twelver Shia Online: Challenges for its Religious Authorities'' in Alessandro Monsutti (Hrsg.): ''The other Shiites: from Mediterranean to Central Asia''. Lang, Bern 2007, S. 245–262.</ref> [[Ali as-Sistani|ʿAlī as-Sīstānī]], gegenwärtig einer der angesehenstes Mardschaʿs weltweit, betreibt seine Website in sieben Sprachen, nämlich Arabisch, Persisch, [[Urdu]], Englisch, [[Aserbaidschanische Sprache|Aserbaidschanisch]], Türkisch und Französisch.<ref>Siehe die [http://www.sistani.org/ offizielle Website von as-Sīsitānī].</ref>
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=== Ausbildung und Autoritätsstufen des Klerus ===
Der Aufstieg zu einem Mardschaʿ ist ein langer Weg. Die Ausbildung beginnt meist bereits im Kindesalter. Die religiöse Ausbildung der schiitischen Geistlichen findet üblicherweise in einer [[Hawza|Hauza]] statt. Derartige schiitische Lehranstalten existieren heute nicht nur an verschiedenen Orten Irans und Iraks, im Libanon und Syrien, sondern auch bei den neu konvertierten Schiiten in Westafrika und in einigen westlichen Großstädten wie London.<ref>Franke: ''Die Ḥawza von Nadschaf''. 2007, S. 81.</ref> Die bekanntesten und angesehensten Hauzas sind allerdings diejenigen im irakischen [[Nadschaf]] und im iranischen [[Ghom]]. Sie haben auch internationale Bedeutung: Ihre Studenten stammen nicht nur aus dem Irak bzw. Iran, sondern aus der gesamten schiitischen Welt. Bis heute ist es üblich, dass Studenten, die eine [[Idschāza|Autorisierung]] zum [[Idschtihād]] erhalten wollen, für die höchste Stufe ihres Studiums eine dieser beiden Wissenschaftsstätten aufsuchen.<ref>Franke: ''Die Ḥawza von Nadschaf''. 2007, S. 88.</ref> Insgesamt umfasst die Hauza-Ausbildung drei mehrjährige Lernzyklen,<ref>Vgl. den Überblick bei Franke: ''Die Ḥawza von Nadschaf''. 2007, S. 83f.</ref> die mit der Vergabe von bestimmten Titeln verbunden sind:
Der Aufstieg zu einem Mardschaʿ ist ein langer und beschwerlicher Weg. Die Ausbildung beginnt meist bereits im Kindesalter. Viele Mardschaʿs stammen selbst aus Gelehrtenfamilien oder führen ihre Abstammung auf den Propheten zurück ''([[sayyid]])''. In der Regel wird es in der späteren Biographie eines Mardschaʿs hervorgehoben, wenn er einen solchen traditionellen Hintergrund hat, wie es auch hervorgehoben wird, wenn ein Mardschaʿ aus besonders einfachen Verhältnissen stammt, aus denen er sich hochgearbeitet hat. Der stetige Fleiß ist ein Topos, der in allen Mardschaʿ-Biographien auftaucht: Einem Mardschaʿ wird von Kind auf der Nimbus eines Klassenbesten zugeschrieben.
 
Die religiöse Ausbildung der schiitischen Geistlichen findet üblicherweise in einer [[Hauza]] statt. Derartige schiitische Lehranstalten existieren heute nicht nur an verschiedenen Orten Irans und Iraks, im Libanon und Syrien, sondern auch bei den neu konvertierten Schiiten in Westafrika und in einigen westlichen Großstädten wie London.<ref>Franke: ''Die Ḥawza von Nadschaf''. 2007, S. 81.</ref> Die bekanntesten und angesehensten Hauzas sind allerdings diejenigen im irakischen [[Nadschaf]] und im iranischen [[Ghom]]. Sie haben auch internationale Bedeutung: Ihre Studenten stammen nicht nur aus dem Irak bzw. Iran, sondern aus der gesamten schiitischen Welt. Bis heute ist es üblich, dass Studenten, die eine [[Idschāza|Autorisierung]] zum [[Idschtihād]] erhalten wollen, für die höchste Stufe ihres Studiums eine dieser beiden Wissenschaftsstätten aufsuchen.<ref>Franke: ''Die Ḥawza von Nadschaf''. 2007, S. 88.</ref> Insgesamt umfasst die Hauza-Ausbildung drei mehrjährige Lernzyklen,<ref>Vgl. den Überblick bei Franke: ''Die Ḥawza von Nadschaf''. 2007, S. 83f.</ref> die mit der Vergabe von bestimmten Titeln verbunden sind:
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|-
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Absolventen der Chāridsch-Ausbildung gelten als Mudschtahid und nehmen den Titel ''Huddschat al-islām wa-l-muslimīn'' („Beweis des Islams und der Muslime“) an. Um Mardschaʿ at-taqlīd, also Nachahmungsinstanz, zu werden, muss der Mudschtahid noch einen höheren Rang der Hauza erlangen, den nämlich des [[Ajatollah|Ayatollah]] (arab. ''āyat Allāh'' „Zeichen Gottes“). Diesen erhält er nur über ein nicht-kodifiziertes System der Anerkennung durch Schüler und Kollegen. Als Voraussetzung wird allgemein angenommen, dass sich der betreffende Gelehrte durch die Abfassung eigener Traktate und Fatwas sowie durch Unterricht auf Chāridsch-Stufe hervorgetan haben muss. Außerdem wird erwartet, dass er bereit einige Muqallids um sich geschart hat. Der höchste Titel, der aus der Hauza verliehen wird, ist der des [[Großajatollah|Großayatollah]] (arab. ''āyat Allāh al-ʿuẓmā'', „größtes Zeichen Gottes“). Hier sind die Voraussetzungen mehr formalisiert, denn seit den 1950er Jahren ist es Konsens unter den schiitischen Gelehrten, dass ein Groß-Ayatollah eine ''Risāla ʿamalīya'' veröffentlicht haben muss, eine praktische Abhandlung, in der er die für seine Nachahmer bestimmten Fatwas zusammengefasst hat.<ref>Franke: ''Die Ḥawza von Nadschaf''. 2007, S. 84.</ref>
 
Großayatollah ist gewöhnlich der höchste Rang, den ein zwölfer-schiitischer Gelehrter erreichen kann. Der noch darüber stehende Rang eines ''Mardschaʿ taqlīd mutlaq'' („Absolute Instanz der Nachahmung“) ist nicht institutionalisiert, sondern erfolgt höchstens spontan durch allgemeine Anerkennung. Auf Phasen der Dominanz eines ''Mardschaʿ taqlīd mutlaq'' („Absolute Instanz der Nachahmung“) folgten in der Vergangenheit immer wieder Phasen der Rivalität verschiedener Mardschaʿs.<ref>Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 135.</ref> Der letzte schiitische Gelehrte, der den Rang eines Mardschaʿ taqlīd mutlaq innehatte, war Großajatollah [[Hossein Borudscherdi|Borudscherdi]]. Er wurde von 1949 bis 1961 als solcher anerkannt.
 
== Geschichte ==
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Die zwölfer-schiitische Lehre hat sich Ende des 9. Jahrhunderts in [[Imamiten|imamitischen]] Kreisen entwickelt. Die neue Lehre stellte eine Antwort auf die allgemeine Verunsicherung ''(ḥaira)'' dar, die bei den Imamiten eingetreten war, nachdem der elfte Imam [[Hasan al-ʿAskarī]] 874 im jungen Alter von 29 Jahren gestorben war, ohne Kinder zu hinterlassen. In dieser Zeit entstand eine Vielzahl von unterschiedlichen Lehrmeinungen über die Nachfolge im Imamat. [[Asch-Schahrastānī]] zählt insgesamt elf verschiedene Gruppen auf, die dazu eigene Lehrmeinungen hatten. Einige prominente imamitische Schiiten konvertierten in dieser Zeit auch zur [[Ismailiten|Ismāʿīlīya]].<ref>Abdulsater: ''Dynamics of absence''. 2011, S. 307.</ref> Es war ʿUthmān ibn Saʿīd al-ʿAmrī, einer der engsten Anhänger Hasans, der in dieser Zeit mit der Behauptung auftrat, dass al-Hasan al-ʿAskarī doch einen Sohn hinterlassen und als Nachfolger eingesetzt habe, man diesen jedoch versteckt habe, um zu verhindern, dass die Regierung ihn gefangen nimmt und tötet. Dschaʿfar, der Bruder al-Hasan al-ʿAskarīs, der selbst Anspruch auf das Imamat erhob, betrachtete diese Behauptung als eine Erfindung, die darauf abzielte, ihn vom Erbe auszuschließen, und strengte einen Prozess gegen Hudaith, al-Hasans Mutter, an, um sich sein Erbteil zu erstreiten. Der Prozess dauerte sieben Jahre und ergab am Ende, dass Hudaiths Behauptung, dass al-Hasans Sklavin schwanger gewesen sei, haltlos war, er also keinen Sohn hinterlassen hatte. Zwar erhielt Dschaʿfar einen Teil von al-Hasans Erbe, doch konnte er seinen Anspruch auf das Imamat nicht durchsetzen, weil ihn seine Zusammenarbeit mit den abbasidischen staatlichen Autoritäten bei den Imamiten diskreditiert hatte.<ref>Hossein Modarressi: ''Crisis and Consolidation in the formative period of Shiʿite Islam. Abū Jaʿfar ibn Qiba al-Rāzī and his contribution to Imāmite Shīʿite thought.'' Darwin Press, Princeton, New Jersey, 1993. S. 77–79.</ref>
 
In der Zwischenzeit konnte ʿUthmān ibn Saʿīd al-ʿAmrī einen Großteil der Agenten des verstorbenen Imams sowie der imamitischen Elite auf seine Seite bringen und sie von der Existenz eines verborgenen Sohns von al-Hasan al-ʿAskarī überzeugen.<ref>Abdulsater: ''Dynamics of absence''. 2011, S. 309.</ref> Nach ʿUthmāns Tod, der wahrscheinlich 893 stattfand, übernahm sein Sohn Abū Dschaʿfar Muhammad die Position an der Spitze des klandestinen Agentennetzwerks und nutzte es zur Einsammlung von Almosenzahlungen bei den schiitischen Gläubigen. Er trat selbst mit der Behauptung auf, den Imam als Erwachsenen gesehen zu haben, weigerte sich aber, den wahren Namen des Imams zu enthüllen. Diese Geheimhaltung begründete er mit der notwendigen Vorsicht vor den staatlichen Autoritäten.<ref>Abdulsater: ''Dynamics of absence''. 2011, S. 310f.</ref> Abū Dschaʿfar Muhammad stand mit seiner Lehre in Konkurrenz zu anderen schiitischen Gruppen, insbesondere zu den [[Alawiten|nusairischen]] [[Ghulāt]], die den Imamen göttliche Eigenschaften zusprachen und die Unterstützung der [[Wesir]]sfamilie der Banū l-Furāt genossen.<ref>Abdulsater: ''Dynamics of absence''. 2011, S. 312f.</ref> Anders als die Imamiten Abū Dschaʿfars hatten die Ghulāt auch keine Bedenken, dem zwölften Imam einen Namen zu geben; sie nannten ihn Muhammad. Im Jahre 914/15 trat sogar ein Mann am Kalifenhof in Bagdad auf, der von sich behauptete, der zurückgekehrte Muhammad ibn al-Hasan zu sein. Der Mann, der aus dem Umfeld der Banū l-Furāt stammte, wurde aber schnell als Schwindler entlarvt und in den Kerker geworfen.<ref>Verena Klemm: ''Die vier sufarāʾ des Zwölften Imām. Zur formativen Periode der Zwölferšīʿa.'' 1983In: ''Die Welt des Orients'', 15 (1984), 126–143. Hier S. 141f.</ref>
 
Nach dem Tod Abū Dschaʿfars im Jahre 917 ging die Führung des imamitischen Agentennetzwerks an Ibn Rauh an-Naubachtī (gest. 938) über. Er entwickelte die Lehre von dem Botschafteramt (''sifāra''), d.&nbsp;h. er trat mit dem Anspruch auf, „Botschafter“ (''safīr'') des Imams zu sein und als dieser die Verbindung zwischen ihm und der Gemeinde seiner Anhänger herstellen zu können. Auch die beiden ʿAmrīs, die vor ihm das imamitische Agentennetzwerk geleitet hatten, erklärte er posthum zu solchen „Botschaftern“, um auf diese Weise eine Kontinuität des Amtes seit der Verborgenheit des Imams nachweisen zu können. Nach dem Sturz seines Gönners und Protektors, des Wesirs Ibn al-Furāt (924), wurde Ibn Rauh an-Naubachtī für fünf Jahre eingekerkert.<ref>Vgl. Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 44.</ref> Während seiner Haft versuchte sein Vertrauter Muhammad ibn ʿAlī asch-Schalmaghānī die Leitung der imamitischen Gemeinde an sich zu reißen. Er trat mit eigenwilligen [[Ghulāt|extrem-schiitischen]] Lehren hervor und wurde von seinen Anhängern als göttliche Inkarnation verehrt. Als Ibn Rauh an-Naubachtī davon erfuhr, exkommunizierte er ihn aus der Gemeinschaft. Es wird auch vermutet, dass die Hinrichtung von asch-Schalmaghānī im Jahre 934 auf seine Initiative hin erfolgte.<ref>Abdulsater: ''Dynamics of absence''. 2011, S. 317f.</ref>
 
Noch zu Lebzeiten des dritten Botschafters Ibn Rauh an-Naubachtī stellte der aus einem Dorf zwischen [[ReySchahr-e (Iran)Rey|Rey]] und [[Ghom|Qom]] stammende Gelehrte [[al-Kulainī]] (gest. 940) seine Traditionssammlung ''al-Kāfī fī ʿilm ad-dīn'' zusammen. So wie [[Sunniten|sunnitische]] Gelehrte im 9. Jahrhundert die zahllosen umlaufenden Prophetenworte gesammelt und nach Sachgebieten gegliedert hatten, sind in ihr die Nachrichten (''aḫbār'') über die Imame zusammengestellt.<ref>Vgl. Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 50f.</ref> Die Sammlung enthält auch einiges extrem-schiitisches Material, was zeigt, dass die zwölfer-schiitische Lehre sich zu dieser Zeit noch nicht völlig von derartigen Tendenzen gelöst hatte.<ref>Abdulsater: ''Dynamics of absence''. 2011, S. 321f.</ref> Ein anderer Angehöriger der Naubachtī-Familie, Abū Sahl an-Naubacht (gest. 924), verfasste in dieser Zeit die Abhandlung ''Kitāb at-Tanbīh'', in der er die Lehre von der Verborgenheit des zwölften Imams gegen andere imamitische Lehren verteidigte, wie zum Beispiel diejenigen der Wāqifiten, die an die Verborgenheit und Rückkehr des achten Imams Mūsā al-Kāzim glaubten.<ref>Abdulsater: ''Dynamics of absence''. 2011, S. 311f.</ref>
 
Während der Zeit des dritten Botschafters Ibn Rauh an-Naubachtī gaben die Imamiten die Zurückhaltung gegenüber einer Namensnennung beim zwölften Imam auf.<ref>Abdulsater: ''Dynamics of absence''. 2011, S. 324.</ref> Dies ist unter anderem durch die Aussage eines nicht-schiitischen Zeitgenossen, [[Abū l-Hasan al-Aschʿarī]] (gest. 935), bestätigt. Er schreibt in seinem Werk ''Maqālāt al-islāmīyīn'', dass die breite Mehrheit der Schiiten (''ǧumhūr aš-Šīʿa'') zu seiner Zeit Muhammad, den Sohn al-Hasan al-ʿAskarīs, als den erwarteten verborgenen Imam betrachtete und von ihm behauptete, „dass er hervortreten und die Welt mit Gerechtigkeit erfüllen werde, nachdem sie mit Ungerechtigkeit und Tyrannei erfüllt war.“ Als Namen für die Gruppierung, die diese Lehre vertritt, verwendet al-Aschʿarī nicht Zwölfer-Schia, sondern Qatʿīya.<ref>Abu-l-Ḥasan ʿAlī Ibn-Ismāʾīl al-Ašʿarī: ''Kitāb Maqālāt al-islāmīyīn wa-ḫtilāf al-muṣallīn.'' Ed. [[Hellmut Ritter]]. Istanbul: Maṭbaʿat ad-daula 1929–1933. S. 17f. [http://menadoc.bibliothek.uni-halle.de/ssg/content/pageview/707659 Digitalisat]</ref>
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Die Zeit der Buyiden stellt die eigentlich formative Periode der Zwölfer-Schia dar. In dieser Zeit erfolgte die wirkliche Ausarbeitung der zwölfer-schiitischen Lehre. Die Konzeption des „Botschafteramtes“ ''(sifāra)'' wurde aufgegeben und die Lehre von der „großen Verborgenheit“ ''(al-ġayba al-kubrā)'' entwickelt. Traditionen aus älteren Büchern über die Ghaiba, die von Autoren früherer schiitischer Strömungen stammten, wurden aufgegriffen und für die zwölfer-schiitische Lehre nutzbar gemacht.<ref>Amir-Moezzi: “Contribution à la typologie des rencontres avec l’imam caché”. 1996, S. 116.</ref>
 
Innerhalb der Zwölfer-Schia standen sich während jener Zeit zwei Traditionen mit unterschiedlichen Weltbildern gegenüber: Die ältere „esoterische, nicht-rationale Tradition“, die durch ein magisches Weltbild und [[Okkultismus]] gekennzeichnet war, wurde durch Gelehrte wie Ibn Abī Zainab an-Nuʿmānī (gest. ca. 956) und [[Ibn Bābawaih]] (gest. 991) fortgeschrieben und verbreitet; die andere Tradition, die erst zu jener Zeit entstand, war die „rationale, theologisch-juridische[[juridisch]]e Tradition“. Sie wurde von den Denkern der sogenannten „Schule von Bagdad“ ausgearbeitet, zu der insbesondere [[asch-Schaich al-Mufīd]] (gest. 1022), [[asch-Scharīf al-Murtadā]] (gest. 1044) und [[Abū Dschaʿfar at-Tūsī]] (gest. 1067) gehörten, und lehnte sich an den Rationalismus der [[Muʿtazila]] an.<ref>Amir-Moezzi: ''Réflexions sur une évolution du shiʿisme duodécimain''. 1993, S. 69f.</ref> Asch-Schaich al-Mufīd war eigentlich ein Schüler von Ibn Bābawaih, doch verfasste er einen kritischen Kommentar zu dessen Bekenntnisschrift ''Kitāb Iʿtiqādāt al-Imāmīya'', in dem er sich von dessen Traditionalismus absetzte. Dieses Buch mit dem Titel ''Taṣḥīḥ'' („Berichtigung“) ''Iʿtiqādāt al-Imāmīya'' begründete den neuen rationalistischen Typ theologischen Denkens in der Zwölfer-Schia.<ref>Ansari/Schmidtke: „The Shīʿī Reception of Muʿtazilism (II): Twelver Shīʿīs“. 2016, S. 201.</ref> Fast alle zwölfer-schiitischen Gelehrten des frühen 11. Jahrhunderts studierten bei asch-Schaich al-Mufīd und/oder seinem Schüler asch-Scharīf al-Murtadā.<ref>Ansari/Schmidtke: „The Shīʿī Reception of Muʿtazilism (II): Twelver Shīʿīs“. 2016, S. 202.</ref> Die Gelehrten dieser rationalistischen Strömung hatten auch viel Kontakt zur [[SchafiitenSchāfiʿiten|schafiitischen]] Rechtsschule und übernahmen einige von ihren Konzepten.<ref>Devin J. Stewart: ''Islamic Legal Orthodoxy. Twelver Shiite Responses to the Sunni Legal System''. Salt Lake City 1998,. S. 61–109.</ref>
 
==== Verdrängung anderer imamitischer Gruppen ====
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=== Seldschuken- und frühe Ilchanidenzeit, „Schule von Hilla“ ===
Die Einnahme Bagdads durch die sunnitisch ausgerichteten [[Seldschuken]] 1055/56 brachte das Ende der „Schule von Bagdad“. Abū Dschaʿfar at-Tūsī, der prominenteste Gelehrte der Schule, floh, nachdem man ihm bei antischiitischen Pogromen das Haus und die Bibliothek angezündet hatte, an den Schrein von Nadschaf.<ref>Ansari/Schmidtke: „The Shīʿī Reception of Muʿtazilism (II): Twelver Shīʿīs“. 2016, S. 205.</ref> Zwölfer-Schiiten wurden im Staat der Seldschuken (1042–1203) zunächst verfolgt, abim Laufe der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts dann aber zunehmend in den Staat integriert. Schiitische Beamte und Höflinge traten von nun an als Gönner und Mäzene der zwölferschiitischen Minderheit auf. Sie unterstützten nicht nur [[Sayyid]]-Familien und förderten zwölfer-schiitische Gelehrte, sondern bedachten auch die Schreine der Imame mit reichen Stiftungen.<ref>Vgl. Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 73–79.</ref> Ein besonders eifriger Förderer der schiitischen Pilgerstätten war der schiitische Finanzminister Madschd al-Mulk al-Balasānī (stgest. 1099). Er ließ unter anderem auf dem [[Baqīʿ al-Gharqad|Baqīʿ-Friedhof]] in Medina eine Kuppel über den Gräbern der vier Imame al-Hasan, ʿAlī Zain al-ʿĀbidīn, Muhammad al-Bāqir und Dschaʿfar as-Sādiq errichten.<ref>[[Werner Ende]]: „Steine des Anstoßes. Das Mausoleum der Ahl al-bayt in Medina“. In: Hinrich Biesterfeldt und Verena Klemm (Hrsg.): Differenz und Dynamik im Islam. Festschrift für Heinz Halm zum 70. Geburtstag. Ergon-Verlag, Würzburg, 2012. S. 181–200. Hier S. 186</ref>
 
In der nordwestiranischen Provinz [[Dschibāl]] entfaltete sich unter der Herrschaft der Seldschuken auch eine lebendige zwölfer-schiitische Gelehrtenkultur. Dies geht aus dem zwischen 1160 und 1170 abgefassten ''Kitāb an-Naqḍ'' des Schiiten ʿAbd al-Dschalīl al-Qazwīnī hervor, das reiche Informationen über das zeitgenössische religiöse Leben der Schiiten in dieser Provinz enthält. So beschreibt der Autor, dass es in [[Schahr-e Rey|Raiy]], wo er selbst lehrte, und in [[Ghom|Qom]] jeweils neun imamitische Schulen gab, in [[Kaschan (Stadt)|Kaschan]] vier und in Āveh und [[Waramin|Varamin]] jeweils zwei.<ref>Vgl. Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 77.</ref> Darüber hinaus entwickelten sich ab dem frühen 12. Jahrhundert die Länder [[Großsyrien]]sSyriens mit den Städten [[Tripoli (Libanon)|Tripoli]] und [[Aleppo]] zu Zentren zwölfer-schiitischer Gelehrsamkeit.<ref>Ansari/Schmidtke: „The Shīʿī Reception of Muʿtazilism (II): Twelver Shīʿīs“. 2016, S. 203.</ref> In Aleppo wirkte zum Beispiel der Rechtsgelehrte Abū l-Makārim Hamza ibn ʿAlī Ibn Zuhra (gest. 1189), der Autor von ''Ġunyat an-nuzūʿ ilā ʿilmai al-uṣūl wa-l-furūʿ'', eines der umfassendsten Kompendien der imamitischen Rechtstheorie des 12. Jahrhunderts.<ref>Pourjavady/Schmidtke: “Twelver Shīʿī Theology”. 2016, S. 456.</ref>
 
Allerdings stand die Zwölfer-Schia weiter in Auseinandersetzung mit anderen Richtungen des Islams. Al-Qazwīnīs Buch ist eigentlich die Antwort auf die Angriffe eines kurz zuvor zum sunnitischen Islam abgefallenen schiitischen Glaubensbruders. Er hatte in einem polemischen Traktat mit dem Titel ''Baʿḍ faḍāʾiḥ ar-Rawāfiḍ'' („Einige Schändlichkeiten der [[Rāfida|Rāfiditen]]“) die Zwölfer-Schiiten in einem besonders negativen Licht dargestellt. Al-Qazwīnī verteidigte die zwölfer-schiitischen Lehren gegen diese Angriffe.<ref>Falaturi: ''Die Zwölfer-Schia aus der Sicht eines Schiiten.'' 1968, S. 75.</ref> Polemische Angriffe erlebte die Zwölfer-Schia in dieser Zeit auch von Seiten der [[Zaiditen|zaiditischen]] Schiiten. So verfasste der zaiditische Imam des Jemen al-Mansūr bi-Llāh (reg. 1197–1217) ein Werk mit dem Titel ''al-ʿIqd aṯ-ṯamīn fī aḥkām al-aʾimma al-hādīn'' („Das kostbare Halsband über die Bestimmungen der den rechten Weg führenden Imame“), in dem er verschiedene zwölfer-schiitische Lehren (Entrückung des zwölften Imams, Festlegung der Imame durch Designation, Unfehlbarkeit usw.) zurückwies.<ref>Jarrar: “Al-Manṣūr Bi-Llāh's Controversy with Twelver Šīʿites.” 2012, S. 319–331.</ref>
 
Gegen Ende der seldschukischen Periode und während der [[Ilchane|ilchanidischen]] Periode trat die irakische Stadt [[Hilla]] als neues Zentrum zwölfer-schiitischen Denkens hervor. Begründer der „Schule von Hilla“, die dem [[Kalām]] sehr positiv gegenüberstand und den theologisch-juridischen Rationalismus der Usūlīya zu einem neuen Höhepunkt brachte, war Sadīd al-Dīn al-Himmasī (gest. nach 1204). Er verfasste 1185 in Hilla sein Werk ''al-Munqiḏ min at-taqlīd'' („Der Erretter aus dem [[Taqlid|Taqlīd]]“).<ref>Pourjavady/Schmidtke: “Twelver Shīʿī Theology”. 2016, S. 457.</ref> Kennzeichnend für die „Schule von Hilla“, zu der auch die Denker Ibn Idrīs (gest. 1201), al-Muhaqqiq al-Hillī (gest. 1277) und [[al-ʿAllāma al-Hillī]] (gest. 1325) gehörten, war ihre Befürwortung und Ausarbeitung des [[Idschtihād]]-Konzepts. Dies stellte einen Bruch mit der Vergangenheit dar, denn die Imamiten früherer Zeit hatten den Idschtihād noch abgelehnt.<ref>Amir-Moezzi: ''Réflexions sur une évolution du shiʿisme duodécimain''. 1993, S. 73.</ref> Zwei andere wichtige zwölfer-schiitische Gelehrte der frühen Mongolenzeit, die außerhalb der Schule von Hilla standen, waren Radī ad-Dīn ʿAlī ibn Mūsā Ibn Tāwūs (gest. 1266) und [[Nasīr ad-Dīn at-Tūsī]] (gest. 1274).<ref>Vgl. zu ihnen Strothmann: ''Die Zwölfer-Schīʿa''. 1926.</ref> Letzterer stand unter dem Einfluss des [[Aschʿarīya|aschʿaritischen]] Theologen [[Fachr ad-Dīn ar-Rāzī]] und „modernisierte“ die zwölfer-schiitische Theologie, indem er die philosophische Begrifflichkeit [[Avicenna]]s in die Kalām-Diskussionen einführte. Seine beiden Kalām-Traktate ''Qawāʿid al-ʿaqāʾid'' und ''Taǧrīd al-iʿtiqād'' waren unter den späteren Zwölfer-Schiiten sehr beliebt und wurden mehrfach kommentiert.<ref>Hassan Ansari und Sabine Schmidtke: „Philosophical Theology among Sixth/Twelfth Century Twelver Shīʿites: From Naṣīr al-Dīn al-Ṭūsī (d. after 599/1201-2 or 600/1202-3) to Naṣīr al-Dīn al-Ṭūsī (d. 672/1274)“ in ''Shii Studies Review'' 1 (2017) 194-256. Hier S. 207.</ref>
 
Im 13. Jahrhundert bildete sich als ein weiteres intellektuelles Zentrum der Zwölfer-Schia Bahrain heraus,<ref>Pourjavady/Schmidtke: “Twelver Shīʿī Theology”. 2016, S. 459.</ref> was damals noch der Name für die arabische Golfküste war. Die Bevölkerung dieser Region, die [[al-Qatif (Verwaltungsbezirk)|al-Qatīf]] und [[al-Hasa]] umfasste, war erst im 12. Jahrhundert von der [[Qarmaten|qarmatischen]] Lehre zur Zwölfer-Schia übergegangen.<ref>Momen: ''An Introduction to Shiʿi Islam.'' 1985, S. 90f.</ref> Zu den bedeutenden zwölfer-schiitischen Gelehrten Bahrains im 13. Jahrhundert gehörte Dschamāl ad-Dīn ʿAlī ibn Sulaimān al-Bahrānī (gest. ca. 1271). Er verfasste einen sehr umfassenden Kommentar zur Sammlung [[Nahdsch al-Balāgha]], in dem er auf mystische Konzepte von [[Muhyī d-Dīn Ibn ʿArabī]] zurückgriff. Damit hatte er großen Einfluss auf das spätere zwölfer-schiitische Denken, insbesondere was Ibn ʿArabīs Lehre von den zwei Siegeln der [[Walī#Walī als Gottesfreund|Gottesfreundschaft]] anlangt. Sie wurde in der Weise neu gedeutet, dass die Gottesfreundschaft mit dem Imamat identifiziert wurde.<ref>Pourjavady/Schmidtke: “Twelver Shīʿī Theology”. 2016, S. 459f, 462.</ref>
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=== Staatliche Förderung in Spätmittelalter und früher Neuzeit ===
==== Iran: Öldscheitü, Sarbadāren, Safawiden ====
Der ilchanidische Herrscher [[Öldscheitü]] (1304–1316) konvertierte selbst zwischen 1307 und 1310 vom sunnitischen zum zwölfer-schiitischen Islam. Er forderte auch seine Emire auf, zur Zwölfer-Schia zu konvertieren. Dieser Aufforderung kamen fast alle Emire nach; nur seine beiden Haupt-Emire [[Amir Tschupan|Saʿīd Tschubān]] und Aisan Qutlugh blieben sunnitisch.<ref>Pfeiffer: ''Twelver Shīʻism in Mongol Iran''. 1999, S. 14f.</ref> Öldscheitüs Übertritt zur Zwölfer-Schia wird auch durch den [[Numismatik|numismatischen]] Befund bestätigt. In der theologischen Literatur wird er auf den Einfluss von al-ʿAllāma al-Hillī zurückgeführt. Nach dem persischen Geschichtsschreiber Hāfiz-i Abrū (gest. 1430) kam dieser Gelehrte erst dann ins Spiel, als Öldscheitü diese Lehre bereits angenommen und durch ein Dekret zur Staatsreligion gemacht hatte; er wurde daraufhin in das Militärlager gerufen und erhielt die Aufgabe, die imamitische Lehre auszuarbeiten und zu verbreiten.<ref>Pfeiffer: ''Twelver Shīʻism in Mongol Iran''. 1999, S. 11.</ref> Öldscheitüs Nachfolger [[Abū Saʿīd]] (1315–1335) kehrte zum sunnitischen Islam zurück. Nach seinem Tod löste sich das iranische Mongolenreich auf.<ref>Vgl. Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 83, 90.</ref> Im 14. Jahrhundert wurde die Zwölfer-Schia außerdem durch die Lokaldynastie der [[Sarbedaran|Sarbadāren]] gefördert, die ihr Zentrum in Sabzawār im westlichen Chorasān hat. Die Sarbadāren prägten die Namen der zwölf Imame auf ihre Münzen und zogen auch imamitische Gelehrte an ihren Hof.<ref>Vgl. Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 96.</ref>
 
[[Datei:The declaration of Shi'ism as the state religion of Iran by Shah Ismail -Safavids dynasty.jpeg|mini|Die Erklärung der Zwölfer-Schia zur offiziellen Lehre in Iran durch Schah [[Ismail I. (Schah)|Ismāʿīl]] im Jahre 1501, Illustration in einem anonymen persischen Werk von 1680 in der [[British Library]].]]
Von erheblich nachhaltigerer Wirkung war es, dass die [[Safawiden]] (1501–1722) zu Beginn ihrer Herrschaft über Iran die Zwölfer-Schia als offizielle Lehre des Staates einführten.<ref>Amir-Moezzi: ''Réflexions sur une évolution du shiʿisme duodécimain''. 1993, S. 75.</ref> Der Safawide [[Ismail I. (Schah)|Ismāʿīl]], der 1501 in [[Täbris]] zum Schah ausgerufen wurde, ließ gegen den Widerstand der lokalen Bevölkerung die [[Chutba|Freitagspredigt]] auf die zwölf Imame lesen und die schiitische Formel „Ich bezeuge, dass ʿAlī der Freund Gottes ist“ sowie den Satz „Auf zum besten Tun“ an den Gebetsruf anschließen. Dieses Ritual wurde seitdem auch in den anderen Provinzen regelmäßig wiederholt.<ref>Savory: „The Export of Ithna Ashari Shi'ism“. 1990, S. 22f.</ref> Außerdem erging der Befehl, dass auf den Märkten die ersten drei Kalifen Abū Bakr, ʿUmar und ʿUthmān zu verfluchen waren; wer sich weigerte, sollte getötet werden.<ref>Vgl. Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 107.</ref> Damit erhielt der safawidische Staat, der ab 1510 ganz Iran und Teile des Irak umfasste, eine klar zwölfer-schiitische Ausrichtung.<ref>Savory: „The Export of Ithna Ashari Shi'ism“. 1990, S. 25f.</ref> Für die Verbreitung des zwölfer-schiitischen Bekenntnisses war fortan der [[Sadr (Rang)|Sadr]] zuständig. Er hatte auch seine Reinhaltung zu garantieren und gegen jede Abweichung und Neuerung einzuschreiten.<ref>Vgl. Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 110.</ref> Das erste zwölfer-schiitische Buch, das während der Herrschaft der Safawiden verfasst wurde, war der Kommentar von Nadschm ad-Dīn Mahmūd an-Nairīzī (gest. nach 1526) zu Nasīr ad-Dīn at-Tūsīs ''Taǧrīd al-iʿtiqād''. Er wurde noch vor dem Jahr 1510 abgeschlossen.<ref>Pourjavady/Schmidtke: “Twelver Shīʿī Theology”. 2016, S. 462.</ref>
 
Die Durchsetzung der Zwölfer-Schia in Iran war allerdings zunächst schwierig, weil nicht genügend religiöses Personal mit der richtigen Ausrichtung dafür zur Verfügung stand. Ismāʿīl und sein Nachfolger Schah [[Tahmasp I.]] (reg. 1524–1576) riefen deswegen schiitische Gelehrte aus dem Ausland ins Land, insbesondere solche von der arabischen Golfküste und aus dem [[Dschabal ʿAmilʿĀmil]]. Allein während der Herrschaftszeiten von Ismāʿīl und Tahmasp zogen 22 schiitische Gelehrte aus Syrien in das Safawidenreich.<ref>Miriam Younes: ''Diskussionen schiitischer Gelehrter über juristische Grundlagen von Legalität in der frühen Safawidenzeit: das Beispiel der Abhandlungen über das Freitagsgebet''. Ergon, Würzburg, 2010. S. 34.</ref> Einer der wichtigsten dieser importierten Gelehrten war der Usūlī-Gelehrte ʿAlī al-Karakī (1466–1534) aus der libanesischen Bekaa-Ebene. Er soll schon 1504/05 Ismāʿīl in [[Isfahan]] besucht haben.<ref>Turner: ''Still waiting for the Imam?'' 1993–1995, S. 42.</ref> Al-Karakī entwickelte die Theorie von der „allgemeinen Stellvertreterschaft“ (''niyāba ʿāmma'') der schiitischen Rechtsgelehrten. Diese bezog er auch auf das Freitagsgebet.<ref>Said Amir Arjomand: ''The Shadow of God and the Hidden Imam. Religion, Political Order, and Societal Change in Shiʿite Iran from the Beginning to 1890.'' University of Chicago Press, Chicago, 1984. S. 134, 141.</ref> Während vorher viele Schiiten meinten, dass während der Abwesenheit des Zwölften Imams niemand berechtigt sei, das Freitagsgebet abzuhalten, erklärte al-Karakī die Abhaltung des Freitagsgebets für zulässig. Seiner Auffassung nach war es sogar obligatorisch, wenn ein dafür qualifizierter Gelehrter vorhanden war. Al-Karakī erhielt auch von Tahmasp die Vollmacht, überall in Iran schiitische Vorbeter (''piš-namāz'') einzusetzen.<ref>Vgl. Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 112.</ref> Die Safawiden selbst legten sich im Laufe der Zeit einen neuen Stammbaum zu, in dem sie ihre Abstammung auf den siebten Imam Mūsā al-Kāzim zurückführten.<ref>Roger M. Savory: „Religion and Government in an Iṯnā Ašarī state“ in Joel L. Kraemer und Ilai Alon (Hrsg.): ''Religion and government in the world of Islam: proceedings of the colloquium held at Tel-Aviv University 3–5 june 1979''. ''Israel Oriental Studies'' 10 (1983,) 195–210. Hier S. 198.</ref>
 
Zwölfer-schiitische [[ʿAqīda|Bekenntnisschriften]] wurden allerdings erst kurz vor oder während der Herrschaft von Schah [[Abbas I. (Persien)|ʿAbbās I]] (reg. 1588–1629) verfasst. Die erste Schrift dieser Art war der arabische Text ''Iʿtiqādāt al-Imāmīya'' (oder nur ''al-Iʿtiqādāt'') von [[Bahauddin Amili|Bahā' ad-Dīn al-ʿĀmilī]] (gest. 1621), der sich allerdings primär an Nicht-Zwölfer-Schiiten richtet, wie der Autor klarstellt. Ihnen sollte damit ein Mittel an die Hand gegeben werden, damit sie die Ansichten der Zwölfer-Schiiten nicht mit den fehlerhaften Lehren anderer schiitischer Gruppen verwechseln.<ref>Pourjavady/Schmidtke: “Twelver Shīʿī Theology”. 2016, S. 464.</ref>
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==== Indien: die schiitischen Dekkan-Reiche, Kaschmir ====
[[Datei:Karta sodra indien 1500.jpg|mini|links|Karte mit den [[Dekkan-Sultanate]]n Ahmadnagar, Bijapur und Golkonda, die Anfang des 16. Jahrhunderts zur Zwölfer-Schia übergingen.]]
Auf dem [[Dekkan]] in Indien ließen sich drei Herrscherhäuser, die die Nachfolge der [[Bahmani-Sultanat|Bahmaniden]] angetreten hatten, die [[Adil Shahi|ʿĀdil-Schāhīs]] von [[Bijapur (Sultanat)|Bijapur]], die [[Qutb-Schāhī-Sultanat|Qutb-Schāhīs]] von [[Golkonda]] und die Nizām-Schāhīs von [[Ahmadnagar (Sultanat)|Ahmadnagar]], von dem Modell des Safawiden-Staates inspirieren. Sie führten im frühen 16. Jahrhundert in ihren Reichen ebenfalls die Zwölfer-Schia als offizielle Richtung ein. Im Fall der ʿĀdil-Schāhīs lässt sich der Einfluss der Safawiden besonders deutlich erkennen, denn Yūsuf ʿĀdil Schāh, der Gründer der Dynastie, hat sich vor seinem Herrschaftsantritt nachweislich bei den Safawiden in [[Ardabil (Stadt)|Ardabil]] aufgehalten, bevor er nach Indien auswanderte, 1490 die Herrschaft in Bijapur antrat und 1502 die Freitagspredigt im Namen der zwölf Imame verrichten ließ. Sultan Quli Qutb Schāh (reg. 1518-1543), der Gründer des Qutb-Schāhī-Sultanats, der 1512 in Golkonda die Zwölfer-Schia verkündete und auch die ersten drei Kalifen regelmäßig verfluchen ließ, war dagegen sehr darauf bedacht, herauszustellen, dass er diese Idee nicht von den Safawiden übernommen hatte. Bei den Nizām-Schāhīs war es der Herrscher Burhān Nizām Schāh (reg. 1508–1554), der 1537 zur Zwölfer-Schia konvertierte und diese zur offiziellen Richtung des Staates erhob.<ref>Savory: „The Export of Ithna Ashari Shi'ism“. 1990, S. 26f.</ref>
Bei der Konversion von Burhān Nizām Schāh hat der aus Persien eingewanderte schiitische Prediger und Gelehrte Schāh Tāhir Dakanī (gest. zw. 1545 und 1549) die entscheidende Rolle gespielt. Er ist auch als Verfasser eines Kommentars zu der Bekenntnisschrift ''al-Bāb al-Ḥādī ʿAšar'' von [[al-ʿAllāma al-Hillī]] bekannt. Neben Schāh Tāhir Dakanī war noch ein weiterer schiitischer Gelehrter am Hofe Burhān Nizām Schāhs tätig, nämlich Muhammad ibn Ahmad al-Chawādschagī. Er verfasste für den Herrscher eine eigenständige zwölfer-schiitische Bekenntnisschrift mit dem Titel ''an-Niẓāmīya fī maḏhab al-Imāmīya''. Al-Chawādschagī war auch für den ʿĀdil-Schāhī-Herrscher tätig, für den er die Bekenntnisschrift ''al-Maḥaǧǧa al-baiḍāʾ fī maḏhab āl al-ʿabā'' verfasste, und verbrachte eine Zeitlang in Golkonda, wo er 1547 einen arabischen und einen persischen Kommentar zu Nasīr ad-Dīn at-Tūsīs zwölfer-schiitischenschiitischer Bekenntnisschrift ''al-Fuṣūl'' abschloss.<ref>Ahmed/Pourjavady: „Theology in the Indian Subcontinent“. 2016, S. 607.</ref> In der Folgezeit wanderten zahlreiche zwölfer-schiitische Gelehrte aus Iran in die Dekkan-Sultane ein und halfen dort bei der staatlichen Etablierung der zwölfer-schiitischen Lehre.<ref>Momen: ''An Introduction to Shiʿi Islam.'' 1985, S. 121f.</ref>
 
Bei der Konversion von Burhān Nizām Schāh hat der aus Persien eingewanderte schiitische Prediger und Gelehrte Schāh Tāhir Dakanī (gest. zw. 1545 und 1549) die entscheidende Rolle gespielt. Er ist auch als Verfasser eines Kommentars zu der Bekenntnisschrift ''al-Bāb al-Ḥādī ʿAšar'' von [[al-ʿAllāma al-Hillī]] bekannt. Neben Schāh Tāhir Dakanī war noch ein weiterer schiitischer Gelehrter am Hofe Burhān Nizām Schāhs tätig, nämlich Muhammad ibn Ahmad al-Chawādschagī. Er verfasste für den Herrscher eine eigenständige zwölfer-schiitische Bekenntnisschrift mit dem Titel ''an-Niẓāmīya fī maḏhab al-Imāmīya''. Al-Chawādschagī war auch für den ʿĀdil-Schāhī-Herrscher tätig, für den er die Bekenntnisschrift ''al-Maḥaǧǧa al-baiḍāʾ fī maḏhab āl al-ʿabā'' verfasste, und verbrachte eine Zeitlang in Golkonda, wo er 1547 einen arabischen und einen persischen Kommentar zu Nasīr ad-Dīn at-Tūsīs zwölfer-schiitischen Bekenntnisschrift ''al-Fuṣūl'' abschloss.<ref>Ahmed/Pourjavady: „Theology in the Indian Subcontinent“. 2016, S. 607.</ref> In der Folgezeit wanderten zahlreiche zwölfer-schiitische Gelehrte aus Iran in die Dekkan-Sultane ein und halfen dort bei der staatlichen Etablierung der zwölfer-schiitischen Lehre.<ref>Momen: ''An Introduction to Shiʿi Islam.'' 1985, S. 121f.</ref>
 
[[Datei:Old hussaini dalan.jpg|mini|Zwölfer-schiitische Architektur in Bangladesch: Das Husainī-Dālān in [[Dhaka]]. Der erste Bau stammt von 1642.]]
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Im frühen 17. Jahrhundert bildeten sich gegen den Rationalismus und die scholastische Gelehrsamkeit der Usūlīs zwei Oppositionsbewegungen: die theosophisch orientierte [[Schule von Isfahan]] und die traditionalistische [[Achbārīya]].<ref>Vgl. Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 116f.</ref> Als Begründer der neuzeitlichen Achbārīya gilt der in Mekka und Medina lebende persische Gelehrte Muhammad Amīn Astarābādī (gest. 1626). Er und seine Anhänger kritisierten die Usūlīs für ihren [[Idschtihād]] und wollten das [[Fiqh]] allein auf den Koran und die von den [[Ahl al-bait]] überlieferten Hadithe bzw. Achbār stützen.<ref>Fığlalı: ''İsnâaşeriyye'' in ''Türkiye Diyanet Vakfı İslâm ansiklopedisi''. 2001, Bd. XXIII, S. 145.</ref> Für einige Jahre konnten die Achbārīs auch die Oberhand in der irakischen Schiitenhochburg [[Kerbela]] gewinnen.
 
Die Achbārī-Gelehrten versuchten, aus den vier kanonischen Hadith-Sammlungen eine einzige Sammlung zu machen. Ein erstes Ergebnis dieser Bemühungen war das Werk ''al-Wafī'' von Muhammad ibn Mahmūd al-Kāschānī (gest. 1680). Muhammad Hurr al-ʿĀmilī (gest. 1692–93) ging in seinem ''[[Wasā'il asch-Schīʿa]]'' noch über die vier kanonischen Sammlungen hinaus. Zum Höhepunkt kamen diese Bemühungen mit [[Muhammad Bāqir al-Madschlisī]] (1616–1689) und seiner 110-bändigen Traditionssammlung [[Bihār al-Anwār]]. Daneben gibt es noch ähnlich umfangreiche Enzyklopädien, die jedoch niemals erschienen sind. So verfasste ʿAbdallāh ibn Nūrallāh Bahrānī, ein Zeitgenosse von Madschlisī, der nicht den gleichen Einfluss bei Hofe hatte, ''al-ʿAwālim'', eine umfangreiche Sammlung, die ebenfalls 100 Bände umfasst. Ein weiterer bedeutender Vertreter der Achbārīya war der bahrainische Gelehrte ʿAbdallāh ibn Sālih as-Samāhīdschī (gest. 1722), von dem eine umfangreiche [[Idschāza]] überliefert ist, die die zwölfer-schiitischen Gelehrtennetzwerke der Zeit beleuchtet. Der Text enthält einige [[Isnād]]e, die über frühere Gelehrte und die Imame bis auf den Propheten zurückgeführt werden, und ist eine wichtige Quelle vor allem für die zwölfer-schiitische Gelehrtenkultur von Bahrain.<ref>Vgl. Sabine Schmidtke: "The ''ijāza'' from ʿAbd Allāh b. Sāliḥ al-Samāhījī to Nāṣir al-Jārūdī al-Qaṭīfī: A Source for the Twelver Shiʿi Scholarly Tradition of Baḥrayn." in Farhad Daftary u. Josef Meri (Hrsg.): ''Culture and Memory in Medieval Islam. Essays in Honour of Wilferd Madelung''. I.B.Tauris, London, 2003., S. 64–85.</ref>
 
Die Achbārī-Gelehrten verbreiteten auch Überlieferungen, die die Koranfälschung betreffen.<ref>Rainer Brunner: ''Die Schia und die Koranfälschung''. 2001, S. 12–39.</ref> Ein erster Beleg dafür findet sich im ''Dābistān-i Maḏāhib'', einem zwischen 1645 und 1658 abgefassten Handbuch über die verschiedenen Religionen und Konfessionen in Indien. Wie der Autor erzählt, traf er 1643 in [[Lahore]] mit drei zwölfer-schiitischen Gelehrten zusammen, die ihm sagten, dass [[ʿUthmān ibn ʿAffān]] bei der Herstellung der offiziellen Koranausgabe manche Suren über die [[Fadā'il|Vorzüge]] von [[ʿAlī ibn Abī Tālib]] und seine Familie ausgelassen habe. Als Beweis brachten sie ihm einen Text, der mit „Zwei-Lichter-Sure“ (''Sūrat an-Nūrain'') überschrieben ist, 42 Verse umfasst und ʿAlī und seine Familie lobend erwähnt. Der Text ist auch selbst im ''Dābistān-i Maḏāhib'' wiedergegeben.<ref>Fānī: ''Dābistān-i Maḏāhib''. 1904, S. 272f.</ref> [[Theodor Nöldeke]], der sich ausführlich mit der „Zwei-Lichter-Sure“ befasst hat, hat sie als eine „schiitische Fälschung“ eingeordnet.<ref>Vgl. [[Theodor Nöldeke]]: ''Geschichte des Qorāns. 2. Die Sammlung des Qorāns.'' Leipzig 1919. S. 100–112. [https://archive.org/stream/geschichtedesqor00nluoft#page/100/mode/2up Digitalisat]</ref> Zwar haben verschiedene schiitische Gelehrte zu zeigen versucht, dass es sich bei dem Bericht im ''Dābistān-i Maḏāhib'' um eine „anti-schiitische Verleumdung“ handelt,<ref>Vgl. auch Falaturi: ''Die Zwölfer-Schia aus der Sicht eines Schiiten.'' 1968, S. 94f.</ref> doch hat Rainer Brunner nachgewiesen, dass die „Zwei-Lichter-Sure“ auch von anderen zwölfer-schiitischen Gelehrten des 17. Jahrhunderts als Beleg für eine Verfälschung des Korans durch ʿUthmān angeführt wurde. Sie verwiesen noch auf eine andere von ʿUthmān angeblich unterschlagene Sure, die ''Sūrat al-Wilāya'', die mit sieben Versen allerdings erheblich kürzer ausfiel.<ref>Rainer Brunner: ''Die Schia und die Koranfälschung''. 2001, S. 16f.</ref>
 
[[Datei:Nader Shah Afshar.jpg|mini|links|130px|Nadir Schah]]
1722 wurde die Safawiden-Dynastie durch den afghanischen Stammesführer [[Mir Mahmud Hotaki]] gestürzt. Nach dem Abzug der Afghanen 1729 ergriff der [[Afschar]]e Nadir Khan die Macht. Als [[Nader Schah|Nadir Schah]] herrschte er von 1736 bis 1747 über Iran, weite Teile des Kaukasus sowie der heutigen Länder Irak, Afghanistan und Pakistan. Nadir Schah, der selbst wahrscheinlich aus einer schiitischen Familie stammte, sich aber auf mehrheitlich sunnitische Truppen stützte, war sehr interessiert an einem Ausgleich zwischen Schiiten und Sunniten in seinem Reich. Bei seiner Thronbesteigung 1736 forderte er zwar, dass der sunnitische Glaube an die Stelle der „häretischen“ schiitischen Lehre treten müsse, doch berief er 1743 im Zusammenhang mit einem Feldzug in den Irak eine Konferenz ein, an der sunnitische und schiitische [[ʿUlamā'|Religionsgelehrte]] aus Iran, Afghanistan, [[Balch]], Buchara, Kerbela, Nadschaf und al-Kāzimīya teilnahmen. Am Ende der Konferenz wurde eine Erklärung verabschiedet, in der einerseits die Dschaʿfarīya als fünfter rechtmäßiger [[Madhhab]] anerkannt wurde, andererseits den Zwölfer-Schiiten auferlegt wurde, die Legitimität der drei ersten Kalifen, die von ihnen üblicherweise beim Freitagsgebet verflucht wurden, anzuerkennen. Gleichzeitig wurde in der Erklärung die sektarische Religionspolitik der Safawiden verurteilt.<ref>Savory: „The Export of Ithna Ashari Shi'ism“. 1990, S. 30f.</ref>
 
Zwar setzte sich Nadir Schah für eine Anerkennung zumindest der Rechtsschule der Zwölfer-Schiiten ein, doch schwächte er die Position der zwölfer-schiitischen Gelehrten, indem er [[Waqf]]-Güter einzog, die Rechtsprechung auf [[ʿUrf]]-Gerichte beschränkte und das Amt des Sadr abschaffte. Sowohl während seiner Herrschaft als auch schon vorher während des afghanischen Interregnums wanderten viele Gelehrte in den Irak aus und ließen sich an den dortigen schiitischen Schreinen nieder.<ref>Savory: „The Export of Ithna Ashari Shi'ism“. 1990, S. 32f.</ref>
 
=== Das Wiedererstarken der Usūlīs und die schiitische Kulturblüte in Lucknow ===
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts kam es innerhalb der zwölfer-schiitischen Gelehrsamkeit zu einem Wiedererstarken der Usūlīs. Einer der schärfsten Gegner der Achbārīs war der Gelehrte [[Mohammad-Bāqer BehbehānīBehbahānī]] (1705–1793) aus Isfahan. Er studierte in Kerbela und blieb nach Abschluss seiner Ausbildung an den Schreinen im Irak, um den Kampf gegen die Achbārīs zu führen, die er [[Takfīr|für ungläubig erklärte]] und gegen die er auch gewaltsam vorging. Die Achbārīs verloren in dieser Zeit immer mehr Rückhalt im Irak.<ref>Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 131.</ref>
 
[[Datei:Imambara of Asaf-ud-daula interior.jpg|mini|Zwölfer-schiitische Architektur in [[Lucknow]]: Der von Āsaf ad-Daula errichtete große Imambara, der der Darbietung von schiitischen Elegien und Martyrologien diente.]]
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich die indische Stadt [[Lucknow]] zu einem neuen Zentrum der Zwölfer-Schia. Lucknow war seit 1782 die Hauptstadt des wohlhabenden [[Nawab]]-Fürstentums von [[Avadh|Awadh]], das sich in dieser Zeit vom Mogulhof emanzipierte und eine klar schiitische Ausrichtung entwickelte.<ref>Hartung: ''„Überall ist Kerbala“''. 2005, S. 270.</ref> Die Nawabs von Awadh waren selbst persischer Herkunft und bekannten sich zum zwölfer-schiitischen Glauben, daneben bestand auch der Adel von Awadh zum großen Teil aus zwölfer-schiitischen Familien. Sie waren untereinander und mit der Familie des Nawab verwandtschaftlich verbunden.<ref>Keshani: ''Architecture and the Twelver Shi'i tradition''. 2006, S. 225f.</ref> Als Abgrenzungsmerkmal gegenüber dem offiziell sunnitischen Mogulhof errichteten sie in Lucknow schiitische Repräsentationsbauten, die sie als ''Imām-bāŕa'' („Imam-Bezirk“) bezeichneten und in denen schiitische Elegien und Martyrologien dargeboten wurden. Der größte Bau dieser Art ist der auf Anordnung von Āsaf ad-Daula (reg. 1775–1799) errichtete ''Imām-bāra-yi Āsafī'', der auch „Großer Imambara“ genannt wird und später vielen anderen Bauten auf dem Subkontinent als architektonischearchitektonisches Vorbild diente.<ref>Hartung: ''„Überall ist Kerbala“''. 2005, S. 270f.</ref>
 
[[Datei:Bara imambara 1.jpg|mini|links|Zu dem Imambara-Bezirk von Lucknow gehört auch eine Freitagsmoschee.]]
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=== Die Kadscharen in Persien: Tabak-Fatwa und Konstitutionelle Revolution ===
[[Datei:Tekiyeh Dowlat by Kamalolmolk.jpg|mini|Die ''Takye-ye Doulat'' in Teheran, in der die staatlichen [[Taʿziye]]-Aufführungen stattfanden, gemalt 1892 von [[Kamal-ol-Molk]]]]
Die Fürsten des turkmenischen [[Kadscharen]]-Stammes, die Ende des 18. Jahrhunderts in Iran die Herrschaft übernahmen, verstanden sich wie die Safawiden als Vorkämpfer der Schia. Dies machten sie dadurch deutlich, dass sie die Kuppel über dem schiitischen Schrein von Kerbela vergolden ließen den Schrein von Ghom mit reichen Dotationen bedachten. Allerdings konnten sie wegen ihrer turkmenischen Abkunft keine Abstammung von den Imamen behaupten und darauf keinen religiösen Führungsanspruch behaupten. Diese Rolle fiel nun immer mehr den Rechtsgelehrten zu, die eine „kollektive Stellvertreterschaft“ (''niyāba ʿāmma'') für den Verborgenen Imam zu beanspruchen begannen<ref>Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 132f.</ref> und sich immer mehr von seinen Prärogativen aneigneten wie das Recht zur Einsammlung des Fünften (''ḫums''), die Leitung des [[Freitagsgebet]]s, die Verhängung von [[Hadd-Strafe]]n und die Ausrufung des [[Dschihad]].<ref>Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 136–138.</ref>
Konnten sich in Iran die Safawiden noch – mehr oder weniger glaubhaft – selbst als Angehörige des Prophetenhauses inszenieren, um das Erwachen der Schia für sich und ihre politische Autorität zu nutzen, war es den (turkmenischen) [[Kadscharen]] auf Grund ihrer Herkunft nicht mehr möglich, sich als Prophetenangehörige zu stilisieren, weshalb ihr Einfluss schwand. Gleichzeitig wuchs der Einfluss der Gelehrten, die von den Herrschern als Berater zu Hofe und als Richter eingesetzt wurden. Um die Wende zum 19. Jahrhundert entstand in Iran als neues zwölfer-schiitisches Ritual das [[Taʿziye]]-Passionsspiel. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts errichtete man dafür feste, zirkusähnliche Theaterbauten, die ''Takye'' genannt wurden. Das bekannteste Gebäude dieser Arte war die ''Takye-ye Doulat'' („Staats-Takya“), die [[Nāser ad-Din Schāh]] 1873 nach dem Vorbild der der Londoner [[Royal Albert Hall]] nahe dem Teheraner Palast erbauen ließ.<ref>Hartung: ''„Überall ist Kerbala“''. 2005, S. 271.</ref> In ihr wohnten der Hof und ausländische Gäste des Schahs den Taʿziye-Aufführungen bei.<ref>Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 182.</ref>
 
ImEs 19.war Jahrhundertdies entwickelteauch sichdie alsZeit, in der sich neuesdas Konzept dieder Mardschaʿīya entwickelte. Die bekanntesten VorbilderGelehrten, fürdie späteredas neue Modell des Mardschaʿ at-taqlīd Gelehrteverkörperten, waren Scheich [[Mortaza Ansari|Murtadā al-Ansārī]] (1799–1864) und Mirzā [[Mohammad Hasan Schirazi|Muhammad Hasan Schīrāzī]] (1815–1895), die beide in ihrer Zeit als unumstrittene religiöse Autoritäten akzeptiert worden waren. Der Erstere war vor allem ein ideologisches Vorbild, da sich auch die heutigen Mardschaʿs noch an der Gliederung seiner Fatwa-Sammlungen orientieren. Letzterer wurde vor allem durch seine [[Tabak-Fatwa]] von 1891 bekannt, mit der er erfolgreich das Tabakmonopol der britischen Kolonialherren im Iran zu Fall brachte. Die Anregung zur Veröffentlichung dieser Fatwa kam von dem [[Panislamismus|panislamischen]] Aktivisten [[Dschamal ad-Din al-Afghani|Dschamāl ad-Dīn al-Afghānī]].<ref>Savory: „The Export of Ithna Ashari Shi'ism“. 1990, S. 33f.</ref>
 
KonntenMit sich in Iran die Safawiden noch – mehr oder weniger glaubhaft – selbst als Angehörige des Prophetenhauses inszenieren, um das Erwachen der Schia für sich und ihre politische Autorität zu nutzen, war es den (turkmenischen)dem [[KadscharenTaʿziye]]-Passionsspiel aufkam Grund ihrer Herkunft nicht mehr möglich, sich als Prophetenangehörige zu stilisieren, weshalb ihr Einfluss schwand. Gleichzeitig wuchs der Einfluss der Gelehrten, die von den Herrschern als Berater zu Hofe und als Richter eingesetzt wurden. Umum die Wende zum 19. Jahrhundert entstandauch in Iran alsein neues zwölfer-schiitisches Ritual das [[Taʿziye]]-Passionsspielauf. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts errichtete man dafür feste, zirkusähnliche Theaterbauten, die ''Takye'' genannt wurden. Das bekannteste Gebäude dieser Arte war die ''Takye-ye Doulat'' („Staats-Takya“), die [[Nāser ad-Din Schāh]] 1873 nach dem Vorbild der der Londoner [[Royal Albert Hall]] nahe dem Teheraner Palast erbauen ließ.<ref>Hartung: ''„Überall ist Kerbala“''. 2005, S. 271.</ref> In ihr wohnten der Hof und ausländische Gäste des Schahs den Taʿziye-Aufführungen bei.<ref>Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 182.</ref>
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich als neues Konzept die Mardschaʿīya. Die bekanntesten Vorbilder für spätere Gelehrte waren Scheich [[Mortaza Ansari|Murtadā al-Ansārī]] und Mirzā [[Mohammad Hasan Schirazi|Muhammad Hasan Schīrāzī]] (1815–1895), die beide in ihrer Zeit als unumstrittene religiöse Autoritäten akzeptiert worden waren. Der Erstere war vor allem ein ideologisches Vorbild, da sich auch die heutigen Mardschaʿs noch an der Gliederung seiner Fatwa-Sammlungen orientieren. Letzterer wurde vor allem durch seine [[Tabak-Fatwa]] von 1891 bekannt, mit der er erfolgreich das Tabakmonopol der britischen Kolonialherren im Iran zu Fall brachte. Die Anregung zur Veröffentlichung dieser Fatwa kam von dem [[Panislamismus|panislamischen]] Aktivisten [[Dschamal ad-Din al-Afghani|Dschamāl ad-Dīn al-Afghānī]].<ref>Savory: „The Export of Ithna Ashari Shi'ism“. 1990, S. 33f.</ref>
 
Anfang des 20. Jahrhunderts unterstützten viele zwölfer-schiitische Gelehrte die [[Konstitutionelle Revolution]] in Iran, allen voran [[Mohammad Kāzem Chorāsāni]]. Eine Minderheit, die von [[Fazlollah Nuri]] angeführt wurde, lehnte die Verfassung dagegen ab und bekämpfte sie. Die schließlich im Dezember 1906 verabschiedete [[Verfassung des Iran von 1906|Verfassung]] wurde im Oktober 1907 in Artikel 1 mit einem Zusatz versehen, der den Islam und „die wahre dschaʿfaritische Zwölfer-Lehre“ zur offiziellen Lehrrichtung (''maẕhab-e rasmi'') Irans erklärte und den Herrscher des Landes dazu verpflichtete, Angehöriger und Förderer dieser Lehrrichtung zu sein.<ref>[[Wilhelm Litten]]: „Die neue persische Verfassung. Übersicht über die bisherige gesetzgeberische Arbeit des persischen Parlaments.“ In: ''Beiträge zur Kenntnis des Orients: Jahrbuch der Münchener Orientalischen Gesellschaft.'' 6 (1908), S. 1–51 Hier S. 37 [https://archive.org/stream/beitrgezurkennt00gesegoog#page/n257/mode/2up Digitalisat]. Der persische Originaltext ist [[s:fa:مجموعه مصوبات ادوار اول و دوم قانونگذاری مجلس شورای ملی/متمم قانون اساسی|hier]] abrufbar.</ref>
 
=== Das Aufkommen der zwölfer-schiitischen Khoja-Gemeinden in Indien und Ostafrika ===
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielt die Zwölfer-Schia in Indien dadurch noch einmal besonderen Zuwachs, dass viele Angehörige aus der Händlerkaste der Khojas zu dieser Form des Islams konvertierten. Seit ihrer Konversion zum Islam im 15. Jahrhundert waren die Khojas im Handel im [[Indischer Ozean|Indischen Ozean]] aktiv, insbesondere zwischen Indien und [[Ostafrika]]. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren sie noch mehrheitlich [[Nizariten|nizaritische]] [[Ismailiten]] gewesen, mit einer kleinen zwölfer-schiitischen Minderheit. Nach dem [[Aga Khan Case]] von 1866 wandten sich aber immer mehr Khojas von der Ismāʿīlīya ab und gingen zur Zwölfer-Schia über. In den 1870er Jahren baten diese zwölfer-schiitischen Khojas Scheich Zain ad-Dīn Māzandarānī (gest. 1892) von Kerbela, den sie als ihr religiöses Oberhaupt betrachteten, darum, ihnen jemanden zu senden, der sie in der zwölfer-schiitischen Lehre unterweisen könnte. 1873 wurde ein gewisser Mullā Qādir Husain entsandt, der bis 1900 in [[Mumbai|Bombay]] blieb und dort eine erste zwölfer-schiitische Gemeinde aufbaute. Ein weiterer Gelehrter aus dem Irak, Āyatullāh Schaich Abū l-Qāsim Nadschafī, baute zwölfer-schiitische Gemeinden in [[Bhavnagar]] und Mahuva in [[Gujarat]] auf. Nach seiner Übersiedlung nach Bombay im Jahre 1891 wurde mit seiner Unterstützung im Palla-Galli-Viertel die erste zwölfer-schiitische Moschee errichtet.<ref>Mirza: ''Travelling Leaders and Connecting Print Cultures.'' 2014, S. 462.</ref> Zwischen 1880 und 1904 entstanden erste zwölfer-schiitischen Gemeinden von Khojas auf [[Sansibar]], in [[Mombasa]], auf [[Lamu]], in [[Bagamoyo]], [[Lindi]], [[Pangani (Tansania)|Pangani]], [[Daressalam]] und [[Kilwa Kisiwani|Kilwa]].<ref>Rizvi/King: ''The Khoja Shia Ithna-asheriya Community''. 1974, 197f.</ref> 1881 gründete Devji Jamal, ein reicher Händler aus Bombay, die erste zwölfer-schiitische Khoja-[[Madrasa]] in Sansibar.<ref>Mirza: ''Travelling Leaders and Connecting Print Cultures.'' 2014, S. 463.</ref>
 
[[Datei:Muharram mourning, Hussainia TZ.jpg|mini|Eine Muharram-Trauerfeier in einer Husainīya in [[Daressalam]], [[Tansania]]]]
Um 1905 vergrößerte sich die Anzahl der zwölfer-schiitischen Khojas dadurch erheblich, dass viele ismailitische Khojas, die sich der Zentralisierungspolitik von [[Aga Khan III.]] nicht beugen wollten, zur Zwölfer-Schia übergingen. Auch in [[Karatschi|Karachi]] wurde nun eine eigene zwölfer-schiitische Khoja-Gemeinde gegründet.<ref>Michel Boivin: „The Ismaʿili – Isna ʿAshari Divide Among the Khojas: Exploring Forgotten Judicial Data from Karachi.“ in ''Journal of the Royal Asiatic Society'' 24 (2014) 381-396. - Neuabdruck in Justin Jones, Ali Usman Qasmi (Hrsg.): ''The Shi'a in Modern South Asia: Religion, History and Politics''. Cambridge University Press, Cambridge, 2015. S. 36–56.</ref> In Ostafrika entstanden um diese Zeit weitere Gemeinden in Kenia, Mosambik, [[Uganda]], [[Zaire]], [[Mauritius]] und [[Madagaskar]].<ref>Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 174f.</ref> In den Auseinandersetzungen mit den ismailitisch verbliebenen Khojas kamen einige Zwölfer-Schiiten ums Leben, die bis heute in den zwölfer-schiitischen Gemeinden als [[Märtyrer]] verehrt werden.<ref>Mirza: ''Travelling Leaders and Connecting Print Cultures.'' 2014, S. 462.</ref>
 
Im November 1945 kamen Delegierte verschiedener zwölfer-schiitischer Khoja-Gemeinden in Daressalam zu einer ersten Konferenz zusammen, mit dem Ziel, eine regionale Organisation zu gründen. Aus diesen Bemühungen ging im Mai 1946 die ''Federation of Khoja Shia Ithna Ashari Jamaats of Africa'' hervor,<ref>Rizvi/King: ''The Khoja Shia Ithna-asheriya Community''. 1974, 199f.</ref> die bis heute besteht.<ref>Vgl. die [http://www.africafederation.org/ Website] der Organisation.</ref> Die Föderation standardisierte das Curriculum der religiösen Erziehung, entwickelte verschiedene Bildungsaktivitäten und gründete 1964 die Bilal Muslim Mission, um Afrikaner zur Zwölfer-Schia zu bekehren.<ref>Rizvi/King: ''The Khoja Shia Ithna-asheriya Community''. 1974, 202-204.</ref> Bis zum Jahre 2002 soll sie ungefähr 100.000 neue Anhänger für die Zwölfer-Schia gewonnen haben. Die meisten von ihnen waren vorher sunnitische Muslime.<ref>Momen: ''Shi'i Islam.'' 2016, S. 271.</ref>
 
=== Die zwölfer-schiitische Gelehrsamkeit während der Herrschaft der Pahlavis ===
Während der Herrschaft der [[Pahlavi (Dynastie)|Pahlavi-Dynastie]], die 1925 an die Macht kam, verhielten sich die zwölfer-schiitischen Gelehrten zunächst [[Politischer Quietismus|quietistisch]]. Der in Ghom lehrende Großajatollah [[Hossein Borudscherdi]], der seit 1949 allgemeine Anerkennung als höchster ''Mardschaʿ-i taqlīd'' fand, lud im Februar 1949 ungefähr 2000 schiitische Gelehrte zu einem Kongress nach Ghom ein und verpflichtete sie, sich keiner Partei anzuschließen und sich nicht in politische Angelegenheiten einzumischen. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, 1960 selbst Widerstand gegen die vom [[Schah]] geplante [[Landreform im Iran|Landreform]] zu leisten.<ref>Vgl. Halm: ''Die Schia.'' 1988, S. 153–155.</ref>
 
Während der 1940er und 1950er Jahre entstand eine Bewegung der Annäherung (''taqrīb'') zwischen Sunniten und Zwölfer-Schiiten. Eine Schlüsselrolle spielte hierbei der ägyptische Gelehrte [[Mahmūd Schaltūt]], der am 1. Oktober 1958 eine Fatwa veröffentlichte, in der er die dschaʿfaritische Rechtsschule als gleichberechtigt neben den vier sunnitischen Rechtsschulen anerkannte. In der Fatwa heißt es: „Der [[Madhhab]] der Dschaʿfarīya, der als Madhhab der imamitischen Zwölfer-Schia bekannt ist, ist ein Madhhab, gemäß dem man im Sinne der [[Scharia]] (''šarʿan'') den Gottesdienst (''taʿabbud'') verrichten darf. Die Muslime sollten dies wissen.“<ref>Siehe die Reproduktion der Fatwa bei ʿAbd al-Karīm Abū Āzār aš-Šīrāzī: ''al-Waḥda al-Islāmīya au at-Taqrīb baina l-maḏāhib as-sabʿa; waṯāʾiq ḫaṭīra wa-buḥūṯ ʿilmīya li-ʿaẓāʾim ʿulamāʾ al-Muslimīn min as-Sunna wa-š-Šīʿa.'' 2. Aufl. Muʾassasat al-Aʿlamī li-l-Maṭbūʿāt, Beirut, 1992. S. 22. [https://archive.org/stream/688798798798/alw7da-alislamia#page/n25 Digitalisat]</ref> Gegen diese Annäherungstenzen sprach sich jedoch der [[Hanbaliten|hanbalitische]] Publizist [[Muhibb ad-Dīn al-Chatīb]] aus. Er veröffentlichte 1960 ein Pamphlet, in der er behauptete, dass die Zwölfer-Schia eine eigenständige vom Islam losgelöste Religion sei, weil die Zwölfer-Schiiten den Koran in der Form, wie ihn die Sunniten überliefern, nicht anerkennen würden.
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=== Die Zwölfer-Schia als Heilsideologie nach der Islamischen Revolution ===
[[Datei:Imam Khomeini in Mehrabad.jpg|mini|hochkant|links|[[AjatollahRuhollah Chomeini]] bei seiner Rückkehr aus dem Exil am 1. Februar 1979 am Flughafen in Teheran]]
Die so genannte [[Islamische Revolution]] im Jahre 1979 führte dazu, dass die von Chomeini entwickelten politischen Ideen in Iran in eine staatliche Ordnung überführt wurden. Das [[Politisches System des Iran|politische System]] der 1979 errichteten „Islamischen Republik Iran“ ist maßgeblich von Chomeinis Theorie der ''Welāyat-e Faqih'' geprägt. Grundlage dafür war das [[Verfassungsreferendum im Iran im Dezember 1979|Verfassungsreferendum vom Dezember 1979]], bei dem mit 99,5 Prozent eine Verfassung angenommen wurde, die auf dieser Theorie fußt. Innerhalb der Geschichte der Zwölfer-Schia war der chomeinistische Diskurs in zweierlei Hinsicht revolutionär: Zum einen sind die schiitischen Geistlichen mit ihm zum ersten Mal in den offenen Kampf gegen ein Regime eingetreten, mit dem Ziel, es zu ersetzen und sich selbst an die Spitze des Staates zu stellen; zum anderen hat der chomeinistische Diskurs die bis dahin übliche politische Zurückhaltung abgelegt, sich von der klassischen [[Kasuistik]] gelöst und [[Marxismus|marxistische]] Konzepte in sein Vokabular integriert.<ref>Amir-Moezzi: ''Réflexions sur une évolution du shiʿisme duodécimain''. 1993, S. 79f.</ref>
 
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[[Datei:Sheikh Zakzaky 1.jpg|mini|hochkant|Ibrahim Zakzaky, seit den 1980er Jahren Anführer der Zwölfer-Schiiten in Nigeria]]
Auch in Ländern ohne schiitischen Bevölkerungsanteil sympathisierten Muslime mit der Islamischen Revolution. [[Fathi Schakaki|Fathī Schaqqāqī]], der Gründer des [[Islamischer Dschihad in Palästina|Islamischen Dschihad in Palästina]], verfasste schon 1979 ein Buch, in dem er Chomeini als „islamische Lösung“ anpries. In [[Nigeria]], [[Senegal]] und [[Indonesien]] führte die revolutionäre Stimmung sogar dazu, dass sunnitische Muslime zur Zwölfer-Schia konvertierten. In Nigeria gründete Scheich Ibrahim Zakzaky eine pro-iranische Organisation, die die Prinzipien der Islamischen Revolution umzusetzen versuchte. Nachdem er in den frühen 1980er Jahren mehrmals Iran besucht hatte und zur Schia konvertiert war, führte er mehrere schiitische Missionskampagnen in [[Kano]], [[Zaria]] und [[Sokoto (Bundesstaat)|Sokoto]] durch. Später gründete er als Zusammenschluss der Schiiten von Nigeria das „Islamic Movement in Nigeria“.<ref>Muhammad Dahiru Sulaiman: ''Shiaism and the Islamic Movement in Nigeria 1979–1991'' in Ousmane Kane et Jean-Louis Triaud: ''Islam et islamismes au sud du Sahara'', Paris 1998, pp. 183-196.</ref> Im Senegal gründete Sidy Lamine Niass Ende 1983 die islamistische Zeitschrift ''Wal-Fadschri'', die sich ideologisch stark an der Islamischen Republik Iran ausrichtete und schiitische Lehren verbreitete.<ref>Hanspeter Mattes: ''Die islamistische Bewegung des Senegal zwischen Autonomie und Außenorientierung: am Beispiel der islamistischen Presse Etudes Islamiques und Wal-Fadjri.'' Hamburg 1989. S. 52–55.</ref> In Indonesien begannen die beiden [[Hadramaut|hadramitischen]] Gelehrten Hussein al-Habsyi und Abdul Qadir Bafaqih in den 1980er Jahren, schiitische Lehren zu verbreiten.<ref>Zur Zwölfer-Schia in Indonesien vgl. Zulkifli: ''The Struggle of the Shi‘is in Indonesia.'' PhD thesis Leiden 2009.</ref>
 
Innerhalb der Islamischen Republik Iran stiegen die beiden Großayatollahs [[Hossein Ali Montazeri]] und [[Jusuf Sanei|Yusof Sanei]] zu wichtigen Positionen im Staat auf. Chomeinis Theorie von der Welāyat-e Faqih fand innerhalb der zwölferschiitischen Gelehrsamkeit allerdings keineswegs ungeteilte Zustimmung. In Iran selbst haben sich zum Beispiel die Gelehrten [[Hassan Tabatabaei Qomi]] und [[Ahmad Azari Qomi]] gegen dieses Konzept ausgesprochen. Auch die große Mehrheit der schiitischen Gelehrten im Irak, in Indien, Syrien und Bahrain steht dem Konzept sehr kritisch gegenüber.<ref>Fığlalı: ''İsnâaşeriyye'' in ''Türkiye Diyanet Vakfı İslâm ansiklopedisi''. 2001, Bd. XXIII, S. 146b.</ref> Viele traditionelle Mardschaʿs mischen sich nicht in politischen Angelegenheiten ein, was ihnen in der zunehmend unruhigen Region immer schwieriger fällt. Sowohl die Islamische Revolution im Iran als auch die US-Invasion im mehrheitlich schiitischen Irak veranlassten viele unpolitische Mardschaʿs, ihre Position neu zu definieren.
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In Syrien stellen die Zwölfer-Schiiten ungefähr drei Prozent der Bevölkerung.<ref>Szanto: „Contesting Fragile Saintly Traditions“. 2013, S. 34.</ref> Zwar leben schon seit mehreren Jahrhunderten kleinere zwölfer-schiitische Minderheiten in dem Land, doch hat sich ein eigenes geistiges Leben erst Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt, als der schiitische Reform-Gelehrte Muhsin al-Amīn (1865–1952) aus dem [[Dschabal ʿĀmil]] nach Damaskus übersiedelte. Nach seiner Ankunft im Jahre 1901 halfen ihm lokale zwölfer-schiitische Händler bei der Gründung einer Schule und einer Stiftung.<ref>Pierret: „Karbala in the Umayyad Mosque“. 2013, S. 100f.</ref> Diese Einrichtungen gediehen auch nach seinem Tod weiter und profitierten von der Annäherung zwischen der Zwölfer-Schia und der [[Alawiten|alawitischen]] Minderheit, die seit den späten 1960er Jahren den syrischen Staatsapparat dominiert. Diese Annäherung verstärkte sich, nachdem 1973 der Anführer der libanesischen Schiiten [[Musa as-Sadr|Mūsā as-Sadr]] die Alawiten offiziell als schiitische Muslime anerkannt hatte. Innerhalb Syriens entstand eine große Anzahl zwölfer-schiitischer Institutionen. Das wichtigste Zentrum der Zwölfer-Schiiten ist der [[Schrein Zainab bint Alis|Schrein Saiyida Zainabs]] im Süden von Damaskus, wo 1976 der irakische Gelehrte Hasan asch-Schīrāzī eine neue Hauza gründete. Seine Bewegung, die sogenannte Schīrāzīya, ist auch die aktivste zwölfer-schiitische Gruppierung in Syrien.<ref>Pierret: „Karbala in the Umayyad Mosque“. 2013, S. 114.</ref> Im Gegensatz zu [[Ali Chamenei|Chamenei]] und der [[Hisbollah]] im Libanon erlaubt sie den schiitischen Gläubigen die Praktik des [[Tatbīr]].<ref>Szanto: „Contesting Fragile Saintly Traditions“. 2013, S. 51.</ref>
 
In den 1980er und 1990er Jahren siedelten sich am Schrein Saiyida Zainabs zahlreiche irakische Flüchtlinge an, und es entstand eine eigene zwölfer-schiitische Stadt mit etwa 200.000 Bewohnern.<ref>Pierret: „Karbala in the Umayyad Mosque“. 2013, S. 102f.</ref> Darüber hinaus konvertierten einige syrische Sunniten und Alawiten zur Zwölfer-Schia.<ref>Szanto: „Contesting Fragile Saintly Traditions“. 2013, S. 44.</ref> 2001 zogen erstmals zwölfer-schiitische Prozessionen durch die Altstadt von Damaskus, bei denen Rache für den Märtyrertod von Husain gefordert wurde.<ref>Pierret: „Karbala in the Umayyad Mosque“. 2013, S. 106.</ref> Als in den Jahren nach 2003 die Anzahl schiitischer Flüchtlinge aus dem Irak noch einmal zunahm und zahlreiche neue schiitische Lehrinstitutionen gegründet wurden, kam es auf sunnitischer Seite zu einem Aufwallen anti-schiitischer Gefühle. Anhänger der [[Muslimbrüder|Muslimbruderschaft]] warfen den in Syrien anwesenden Iranern vor, die zwölfer-schiitische Lehre in der syrischen Bevölkerung mit finanziellen Lockmitteln zu verbreiten und außerdem durch massenweise Annahme der syrischen Staatsbürgerschaft die demographische Zusammensetzung des Landes ändern zu wollen.<ref>Pierret: „Karbala in the Umayyad Mosque“. 2013, S. 110–113.</ref> Die Schiitisierung erfasste auch die östlichen Teile Syriens. 2009 wurde in [[ar-Raqqa]] als neues zwölfer-schiitisches Zentrum die [[Uwais-al-Qaranī-Moschee]] errichtet. Als im Frühling 2011 der [[Bürgerkrieg in Syrien seit 2011|Aufstand gegen das syrische Regime]] ausbrach, flohen tausende irakische Schiiten vor der Gewalt, die diesen Aufstand begleitete, zurück in ihr Heimatland. Da die Zwölfer-Schiiten sowohl die alawitische Regierung unterstützten als auch selbst von ihr Unterstützung erhielten, wurden sie zunehmend Ziel von Angriffen der Aufständischen.<ref>Szanto: „Beyond the Karbala Paradigm“. 2013, S. 76.</ref> Die Uwais-al-Qaranī-Moschee wurde 2014 durch die Organisation [[Islamischer Staat (OrganisationTerrororganisation)|Islamischer Staat im Irak und in der Levante]] zerstört.
 
== Die Zwölfer-Schia in den westlichen Ländern ==
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In [[Deutschland]] leben ungefähr 225.500 Zwölfer-Schiiten.<ref>''[http://remid.de/info_zahlen/islam Mitgliederzahlen: Islam]'', in: ''[[Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst|Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V. (Abkürzung: REMID)]]'', abgerufen am 30. Januar 2016</ref> Die meisten der in Deutschland lebenden Zwölferschiiten stammen ursprünglich aus dem [[Iran]], [[Irak]], [[Libanon]], [[Afghanistan]], [[Pakistan]], [[Indien]] sowie [[Aserbaidschan]].
 
Die Zwölfer-Schiiten sind in Deutschland in dem [[Dachverband]] der [[Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands|Islamischen Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands (IGS)]] organisiert, der im Jahre 2009 in [[Hamburg]] gegründet wurde und dem über 150 schiitische [[Moschee]]gemeinden angehören. Der erste Vorsitzende dieses [[Verein]]s war [[Ajatollah]] [[Sayyid]] [[Abbas Hosseini Ghaemmaghami|Hosseini Ghaemmaghami]]. Aktueller Vorsitzender ist [[Hodschatoleslam]] [[Mahmood Khalilzadeh]].<ref>[http://www.igs-deutschland.org/die-igs/vorstand igs-deutschland.org]</ref> Die IGS ist seit 2014 Teilnehmer an der [[Deutsche Islamkonferenz|Deutschen Islamkonferenz]]. Größtes und bekanntestes Mitglied der IGS istwar dasder Verein [[Islamisches Zentrum Hamburg|Islamische Zentrum Hamburg (IZH)]] mit, der auch die [[Imam-Ali-Moschee]], dasunterhielt. auchEr wurde am 24. Juli 2024 verboten, das ZentrumVereinsvermögen einschließlich der Zwölferschiiten inMoschee Deutschlandwurde isteingezogen.
 
Die [[Schia-Bibliothek]] des Orientalischen Seminars der [[Universität zu Köln]], die Anfang der 1960er Jahre von [[Abdoldjavad Falaturi]] (1926–1996) gegründet wurde, beherbergt eine der wichtigsten Sammlungen zwölfer-schiitischer Literatur in Europa.<ref>M. Ali Amir-Moezzi/Sabine Schmidtke: [https://www.amiscorbin.com/wp-content/uploads/2012/06/Amir-Moezzi-et-Schmidtke-1997-Twelver-Shi%CC%84ite-Resources-in-Europe.pdf „Twelver-Shi'ite Resources in Europe“] in ''Journal Asiatique'' 285/1 (1997) 73–122. Hier S. 78f.</ref>
 
=== Andere europäische Länder ===
Im [[Vereinigtes Königreich|Vereinigten Königreich]] leben etwa 300.000 Zwölfer-Schiiten. Die meisten davon sind Einwanderer aus Iran, dem Irak, Pakistan und Ostafrika.<ref>Momen: ''Shi'i Islam.'' 2016, S. 274.</ref> Es gibt schiitische Bildungszentren in London und [[Birmingham]]. Auch die [[Imam Al-Khoei Benevolent Foundation|al-Chu'i-Stiftung]], eine der wichtigsten zwölfer-schiitischen Organisationen weltweit, hat ihren Sitz in London. Eine weitere zwölfer-schiitische Organisation mit Sitz in London ist die ''World Federation of Khoja Shia Ithna-Asheri Muslim Communities'', die ihre Zentrale im Londoner Stadtteil Stanmore hat.<ref>Momen: ''Shi'i Islam.'' 2016, S. 271.</ref>
 
Die Anzahl der Zwölfer-Schiiten in Frankreich wird auf etwa 100.000 Personen geschätzt.<ref>Momen: ''Shi'i Islam.'' 2016, S. 274.</ref> Eine besondere Gruppe unter ihnen bilden die zwölfer-schiitischen Khojas aus Madagaskar, die nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1960 nach Frankreich einwanderten und jetzt imin der [[Banlieue]] von Paris leben. Sie haben seit 1994 zwei Vereinigungen, eine mit Sitz in [[Bagneux (Hauts-de-Seine)|Bagneux]], die andere mit Sitz in [[La Courneuve]].<ref>Pierre Lachaier: ''Khojas duodécimains de Madagascar'' in ''Hommes & Migrations'' 1268–1269 (2007), 138–143. [https://www.persee.fr/doc/homig_1142-852x_2007_num_1268_1_4638 Digitalisat]</ref>
 
== Literatur ==
'''Quellen (chronologisch)'''
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[[Kategorie:Schiiten]]