Arbeiterkolonie
Der Ausdruck Arbeiterkolonie bezeichnet die Ende des 19. / Anfang 20. Jahrhunderts entstandenen sozialen Einrichtungen für arme Wanderarbeiter und Obdachlose. In verwandtem Sinn wurden die Bezeichnungen Wanderhof, Wanderarbeitsstätte oder Herberge zur Heimat gebraucht.
Die Industrialisierung und die nach dem Boom der Gründerzeit einsetzende Wirtschaftskrise trieb viele arbeitsuchende Männer auf die Straße. Die Arbeits- und Obdachlosen erhielten zu dieser Zeit keinerlei staatliche Unterstützung. Die ersten Arbeiterkolonien wurden von der protestantischen Kirche aus dem Motiv der Inneren Mission heraus als Herbergen zur Heimat gegründet. Die von Adolph Kolping geschaffenen katholischen Gesellenvereine hatten eine ähnliche Zielsetzung.
Hintergrund und Zielsetzung
Als Ende der 1870er, Anfang der 1880er Jahre die Wanderbettelei in Deutschland einen so erheblichen Umfang erreicht hatte, dass man sie vielerorts als Landplage empfand, begann man nach wirksamen Gegenmaßnahmen zu suchen. Man wollte sich vor den angeblichen Gefahren der gewerbsmäßigen Landstreicherei schützen, zugleich aber auch den hilfsbedürftigen und wegen der Arbeitslosigkeit auf die Straße gewiesenen Wanderern in zweckmäßiger Weise Unterstützung gewähren. Zwar hatte die protestantische und die katholische Kirche in dieser Hinsicht bereits Maßnahmen ergriffen und die Vereine gegen Hausbettelei stellten mancherorts kleine Geldgeschenke oder eine Anweisung auf Beköstigung und Nachtlager zur Verfügung, doch reichten diese Einzelmaßnahmen nicht aus. Die Erfolge waren dürftig, weil es an einer festen Organisation der Hilfstätigkeiten für ganze Länder fehlte oder weil man eben bloß die äußere Erscheinung der Wanderbettelei bekämpfte, nicht aber deren Ursachen.
Als Ursache für die herrschenden Missstände sah die Kirche die Abkehr weg von der kirchlich dominierten festen Weltordnung hin zu einer diesseitsorientierten liberalistischen Gesellschaft (arbeitsunwillige „zuchtlose“ Arbeiter auf der einen - und rein profitorientierte Unternehmer auf der anderen Seite).
Pastor Friedrich von Bodelschwingh in Bethel entschloss sich, arbeitslosen Menschen Arbeit zu geben und durch christliche Zucht und Ordnung haltlosen gescheiterten Menschen den Rücken zu stärken und ihnen den Glauben an sich selbst und an Gott nahe zu bringen.
Ursprüngliche Ziele waren also die Wiedergewöhnung an ein geregeltes Leben mit dem Ziel der Vermittlung in ein festes Arbeitsverhältnis. Dies schien durch einen stationären Aufenthalt leichter erreichbar.
Die Entscheidung, für drei bis sechs Monate in eine Arbeiterkolonie zu gehen, war im Prinzip zunächst freiwillig. Aufgenommen wurden entsprechend der dahinterstehenden Idee mehr oder weniger arbeitsfähige Personen. Die erteilte Erlaubnis zur Unterkunft in einer Arbeiterkolonie erfolgte mit der Auflage der Arbeitspflicht, meist in einfacheren Aufgaben, jedoch oft körperlich schwerer Tätigkeit, z. B. in der Landwirtschaft, Moorkultivierung, usw. Oft gab es autoritäre Führungsstrukturen und äußerst strenge Verhaltensregeln mit harter Bestrafung. Es gab nur einen geringen Arbeitslohn, ein Teilbetrag davon wurde zudem für Unterkunftskosten und Sozialversicherung einbehalten. Viele Insassen zogen bald wieder die Freiheit vor und entflohen, auch war die Selbsttötungsrate hoch.
Geschichte der Arbeiterkolonien
1879 erfuhr Bodelschwingh, dass in Belgien bereits Arbeiterkolonien („fermes hospices“) existierten und befand, das Modell könnte auch für die Verhältnisse im Deutschen Reich sinnvoll sein.
Am 22. März 1882 gründete er in Wilhelmsdorf die erste deutsche Arbeiterkolonie. Aus ihr entwickelte sich später die Teilanstalt Eckardtsheim der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Zunächst fand seine Idee nur zögerlich Verbreitung, so dass er selbst weitere Kolonien in der Nähe von Berlin (Freistatt und Hoffnungstal, Lobetal und Gnadental) gründete. 1884 existierten dann aber bereits 20 Arbeiterkolonien in Deutschland. Insgesamt wurden im Deutschen Reich 33 Arbeiterkolonien eingerichtet.
Mit Einführung der Arbeitsämter (1927), der Arbeitslosenversicherung (1927) und von Tarifverträgen sank die Zahl der Wanderarbeiter in den Zwanziger Jahren rapide. Viele Arbeiterkolonien (bzw. ihre Betreiber) bangten regelrecht um ihre Existenz und suchten daher eine erweiterte bzw. geänderte Aufgabenstellung. Mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 stiegen die Zahlen wieder an.
Im Dritten Reich wurde der ursprüngliche Gedanke geändert. Die Kolonien dienten dazu, diese sozialen Randschichten systematisch unter Kontrolle zu halten und Bettler, „Arbeitsscheue“ und andere „Asoziale“ vom Kontakt mit der bürgerlichen Welt abzuschneiden.[1] Das „Fahrende Volk“ sollte entsprechen dem nationalsozialistischen Weltbild von der Bindung des Volkes an die Scholle „(Blut und Boden)“ zwangsweise sesshaft gemacht werden.
Es wurden Landesverbände für „Wander- und Heimatdienst“ gegründet, viele Wanderarbeiter wurden nun zwangsweise mit polizeilichen Mitteln in die Arbeiterkolonien verfrachtet. Viele Insassen wurden in Konzentrationslager überwiesen und kamen dort ums Leben.
Nach Einführung des Reichsarbeitsdienstes in den 1930er Jahren nahm die Zahl der Aufnahmesuchenden meist ab.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das ursprüngliche Aufgabenspektrum häufig erweitert und in betreute gemeinschaftliche Wohnformen für psychisch Kranke, Suchtkranke, Behinderte, verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche, sowie pflegebedürftige ältere Menschen umgewandelt.
Liste der Arbeiterkolonien
Deutschland und ehemaliges Deutsches Reich
- Arbeiterkolonie Alt-Latzig, Posen (heute zu Polen)
- Arbeiterkolonie Ankenbuck (für Jugendliche), später KZ, bei Bad Dürrheim
- Arbeiterkolonie, dann Wanderhof Bischofsried, bei Dießen am Ammersee
- Arbeiterkolonie Bodenheim
- Arbeiterkolonie Czyzeminek (Czyżeminek), bei Pabianice, Nähe Łódź, Polen
- Arbeiterkolonie Dauelsberg, bei Delmenhorst[2]
- Arbeiterkolonie Dornahof, bei Altshausen
- Arbeiterkolonie Eremitage, in Bretzenheim
- Arbeiterkolonie Erlach, bei Sulzbach an der Murr
- Arbeiterinnen-Kolonie Frauenheim (auch: Mägde- und Frauenhort), Groß-Salze (heute Wieliczka, Polen)
- Arbeiterkolonie Freistatt (zu Bethel), Samtgemeinde Kirchdorf, gegr. 1899
- Arbeiterkolonie Geilsdorf, Gemeinde Ilmtal (Thüringen)
- Arbeiterinnen-Kolonie Georgenried, bei Waakirchen
- Arbeiterkolonie, dann Zentralwanderhof Herzogsägmühle, bei Peiting
- Arbeiterkolonien Hoffnungstal, Lobetal, Gnadental, (heute: Hoffnungstaler Stiftung Lobetal), Bernau bei Berlin (bis 2010 in Träger: Verein Hoffnungstal e.V. (gegr. 1905) im Verbund mit von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel/Bielefeld; seit 2011 Träger: Hoffnungstaler Stiftung Lobetal)
- Arbeiterkolonie „Hilf mir“ (auch: Niederreidenbacher Hof), bei Idar-Oberstein, gegr. 1928
- Arbeiterkolonie (auch: Provinzial-Besserungsanstalt) Hilmarsdorf, bei Konitz (heute Chojnice, Polen)
- Arbeiterkolonie Kästorf (Kästorfer Anstalten), bei Gifhorn, gegr. 1883
- Arbeiterkolonie und Verpflegungsstation Magdeburg
- Arbeiterkolonie Marburg (Haus „Männer V“, „Abteilung für chronische Kranke“, bei der damaligen Irrenheilanstalt), Marburg
- Arbeiterkolonie Meierei, in der Provinz Pommern, gegründet 1884
- Arbeiterkolonie Neu-Krenzlin, bei Schwerin, Mecklenburg-Vorpommern
- Arbeiterkolonie Reinickendorfer Straße, Berlin
- Arbeiterkolonie Rickling (ab 1939 Heidehof), bei Flintbek, Schleswig-Holstein
- Arbeiterkolonie Lühlerheim, Hünxe-Drevenack
- Arbeiterkolonie Maria-Veen, Reken
- Hamburger Arbeiterkolonie Schäferhof, bei Appen, Kreis Pinneberg
- Arbeiterkolonie Schernau (auch: Martinshöhe), bei Kaiserslautern
- Arbeiterkolonie Segenborn, Köln
- Arbeiterkolonie Schwarze Kolonie Troisdorf
- Arbeiterkolonie Seyda (Diest-Hof), bei Lutherstadt Wittenberg, gegr. 1883
- Arbeiterkolonie St. Antoniusheim, Vreden
- Katholische Arbeiterkolonie St. Josef, Elkenroth
- Katholische Arbeiterkolonie St. Petrusheim, bei Weeze
- Arbeiterkolonie, dann Wanderhof Silbermühle, bei Nürnberg
- Arbeiterkolonie, dann Wanderhof Simonshof in der Rhön, bei Aschaffenburg
- Katholische Arbeiterkolonie Vellerhof, bei Blankenheim (Ahr)
- Jüdische Arbeiterkolonie Weißensee (Selbsthilfeprojekt!, gegr. v. Martin Philippson), Berlin
- Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf, auch Senne und später Eckardtsheim genannt (zu Bethel), in der Bielefelder Senne, gegr. 1882
- Israelitische Arbeiterkolonie in der Gemeinde Neu-Weißensee, sie entstand mit der Einrichtung des Weißenseer Jüdischen Friedhofs im aufstrebenden nördlichen Vorort der preußischen Hauptstadt Berlin. Im Zeitraum nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie aufgelöst.
Ausland
Die aus Belgien stammende, dann in Deutschland stark verbreitete, Idee der Arbeiterkolonien wirkte auch ins Ausland zurück, wenn auch die (teils stark abgewandelte) Umsetzung nicht immer erfolgreich war. Der Leiter der Rheinischen Missionsgesellschaft in Barmen und Publizist Friedrich Fabri (1824–1891), aktiv in der Kolonialbewegung des späten 19. Jahrhunderts, schlug eine Verschiffung von resozialisierten Insassen nach Übersee vor, die sich dann in dort ebenfalls zu errichtenden Arbeiterkolonien eine neue Existenz (und der deutschen Exportindustrie einen Absatzmarkt) aufbauen sollten.
Unabhängig davon entstanden:
- Deutsche Arbeiterkolonie London, Großbritannien
- Dietisberg, Läufelfingen, Kanton Basel-Land, Schweiz
- Herdern, bei Frauenfeld, Schweiz
- Libury Hall, bei Ware (Nähe Hertford), Großbritannien (Teil einer deutschen Arbeitersiedlung, "almost served as a German workhouse for the indoor relief of paupers"[3])
Literatur
- Matthias Benad / Hans-Walter Schmuhl: Bethel-Eckardtsheim: Von der Gründung der ersten deutschen Arbeiterkolonie bis zur Auflösung als Teilanstalt (1882-2001), Stuttgart: Kohlhammer, 2005?, ISBN 3-17-019018-0
- Annette Eberle (Verf.) / Herzogsägmühle (Innere Mission München - Diakonie in München und Oberbayern e.V.)(Hrsg.): Die Arbeiterkolonie Herzogsägmühle. Beiträge zur Geschichte der bayerischen Obdachlosenhilfe; Peiting, 1994
- Manfred Klaar: Nichtseßhaftigkeit in der BRD und das System der Nichtseßhaftenhilfe: eine Darstellung unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiterkolonie, FH Kiel, FB Sozialwesen, Diplomarbeit, 1987
- Roland Paul / Nikolaus Götz / Dieter Müller: Die Schernau. Von der Arbeiterkolonie zu den Alten- Pflege- und Übergangsheimen, Martinshöhe, 1999
- Zentralverband Deutscher Arbeiterkolonien (Hrsg.)/ Hannes Kiebel u. Heinz Oelhoff (Red. u. Gestaltung): Ein Jahrhundert Arbeiterkolonien. "Arbeit statt Almosen" - Hilfe für obdachlose Wanderarme 1884-1984; Bielefeld: VSH-Verlag Soziale Hilfe, 1984, ISBN 3-923074-01-8
- Ed. Ducpétiaux: Fermes-hospices des deux Flandres, in: Bulletin de la Commission centrale de statistique, Bd. IV, 1851, Brüssel, S. 123–145
Einzelnachweise
- ↑ Vgl. Wolfgang Ayaß: Die Verfolgung der Nichtseßhaften im Dritten Reich. Der ZVAK im Dritten Reich 1933-1945, in: Zentralverband Deutscher Arbeiterkolonien (Hrsg.), Ein Jahrhundert Arbeiterkolonien, Biele¬feld 1984, S. 87-101.
- ↑ http://www.bezirksverband-oldenburg.de/index.php3?hid=004296
- ↑ IMIS-Beiträge (PDF; 468 kB)
Weblinks
- Arbeiterkolonie Rickling
- Arbeiterkolonie Lühlerheim
- Verein für katholische Arbeiterkolonien in Westfalen
- Erlacher Höhe
- NS-Zwangsarbeiter in der Diakonie
- Insassenakten 1933-45, LVW Bayern
- Geschichte der AK Freistatt
- Literaturliste u.a. zu Arbeiterinnen-Kolonien
- Jürgen Scheffler: Die Vagabundenfrage (Online-Text)
- Schenk: Auf dem Weg zum ewigen Wanderer? (Online-Dissertation)
- Die schwarze Kolonie in Troisdorf Friedrich-Wilhelms-Hütte
- Die jüdische Arbeiterkolonie und Asyl
Siehe auch
Fahrendes Volk, Hobo, Tramp, Berber (Wohnungsloser), Obdachlosigkeit, Politik des Forderns und Förderns, Innere Mission, Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, 1-Euro-Job, Arbeitsdienst, Soziale Arbeit, Arbeitshaus, Asozialität