Inzidenz (Epidemiologie)

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In der Epidemiologie und medizinischen Statistik bezeichnet die Inzidenz (Plural: die Inzidenzen von Inzident = „Zwischenfall“, „Vorfall“ bzw. „Ereignis“; aus englisch incident, lateinisch incidere = „begegnen“ bzw. „befallen“) die Häufigkeit von Ereignissen (insbesondere Neuerkrankungen oder Todesfälle) pro Zeit oder über eine Zeitspanne. Die Inzidenz einer Krankheit in einer Bevölkerung wird im einfachsten Fall ausgewiesen als die Zahl der Neuerkrankungen, die in einem Jahr pro 100.000 Menschen auftreten. Genau definierte Maßzahlen der Inzidenz sind die kumulative Inzidenz und die Inzidenzrate, die sich oft nicht wesentlich in ihrem Zahlenwert unterscheiden. Die Inzidenz von Todesfällen wird auch Mortalität genannt. Neben der Prävalenz (dem Anteil der Kranken in einer Bevölkerung) ist die Inzidenz ein Maß für die Morbidität in einer Bevölkerung. Obwohl im Folgenden am Beispiel des Menschen beschrieben, ist die Inzidenz auch eine nützliche Größe zur Überwachung von Tierbeständen.

Inzidenzmaße

Kumulative Inzidenz

Die kumulative Inzidenz (englisch cumulative incidence, daher oft abgekürzt mit CI), auch Inzidenzanteil einer Krankheit in einer Bevölkerung gibt den Anteil der Menschen an, die in einer definierten Zeitspanne mindestens einmal an der Krankheit erkranken.[1] Sie kann auch personenbezogen als die Wahrscheinlichkeit interpretiert werden, mit der eine Person aus der betrachteten Bevölkerung in der definierten Zeitspanne mindestens einmal an der betrachteten Krankheit erkrankt.[2] Die kumulative Inzidenz wird deshalb auch Inzidenzrisiko oder einfach Risiko genannt.[3]

Hierbei sind[4]

  • : die Anzahl der Personen (Individuen), die innerhalb der Zeitspanne neu erkranken, und
  • : die Anzahl der gesunden Personen zu Beobachtungsbeginn.

Die kumulative Inzidenz ist ein Anteil und nimmt entsprechend einen Wert zwischen 0 und 1 an; sie trägt keine Einheit (insbesondere nicht die Einheit pro Jahr) und ist damit dimensionslos. Die Angabe einer kumulativen Inzidenz ohne Nennung eines Zeitraums ist theoretisch nutzlos, da die kumulative Inzidenz für sehr kurze Zeiträume unabhängig von der Krankheit nahe null ist und mit zunehmender Beobachtungsdauer gegen 1 strebt. Wenn kein Zeitraum angegeben ist, kann man sich aber normalerweise darauf verlassen, dass ein Jahr gemeint ist. Diese Zeitspanne hat den Vorteil, dass saisonale Schwankungen nicht erfasst werden.

Addition

Sollen kumulative Inzidenzen für aufeinander folgende Zeiträume zusammengefasst werden, können sie nicht einfach addiert werden. Stattdessen müssen die Gegenwahrscheinlichkeiten (1 − Inzidenz, entsprechend den Wahrscheinlichkeiten, die Teilzeitspannen gesund zu überstehen) multipliziert werden, um die Gegenwahrscheinlichkeit zur kumulativen Inzidenz über den Gesamtzeitraum zu erhalten.

Beispiel:

In einer Gruppe von 200 rauchenden Männern im Alter von 60 bis 80 Jahren, die bisher noch keinen Herzinfarkt hatten, sind während einer Beobachtungszeit von zwei Jahren bei 22 Personen erstmals Herzinfarkte aufgetreten (bei 12 Personen im ersten, bei 10 Personen im zweiten Beobachtungsjahr).

Damit beträgt die kumulative Inzidenz von Herzinfarkten in dieser Gruppe 22/200 = 11 % in zwei Jahren. Im ersten Jahr beträgt sie 12/200 = 6 %, im zweiten Jahr beträgt sie 10/188 = 5,3 %. Es gilt: (1 − 6 %) × (1 − 5,3 %) = 1 − 11 %

Bestimmung in Studien

Kumulative Inzidenzen können in Querschnittstudien bestimmt werden, indem man die Studienteilnehmer fragt, ob sie im letzten Jahr an einer bestimmten Krankheit erkrankt sind. Der Anteil der Menschen, der „ja“ antwortet, ist die kumulative Inzidenz. Zu beachten ist dabei, dass viele Krankheiten überproportional häufig im letzten Lebensjahr auftreten, das aber durch die beschriebene Frage oft nicht mehr erfasst wird. Die kumulative Inzidenz tödlicher Krankheiten würde also systematisch unterschätzt (englisch bias) und sollte somit nicht auf diese Weise bestimmt werden. Außerdem können die Angaben der Befragten systematisch von der Wahrheit abweichen.

Kumulative Inzidenzen werden deshalb optimalerweise in prospektiven Studien (Kohortenstudien) bestimmt. Dafür werden bisher nicht erkrankte Menschen rekrutiert, die für die Grundgesamtheit der nicht erkrankten repräsentativ sein sollen. Die nicht erkrankte Bevölkerung wird auch als Population unter Risiko bezeichnet, weil nur dieser Teil der Bevölkerung noch dem Risiko einer Neuerkrankung unterliegt. Die Studienteilnehmer werden zu Beginn darauf untersucht, ob sie wirklich nicht die betrachtete Krankheit haben. Im Verlauf werden sie erneut auf das Vorliegen der Krankheit getestet, mindestens am Ende des Untersuchungszeitraums oder bis zum ersten Nachweis der Krankheit. Die Untersuchungszeiträume der einzelnen Studienteilnehmer beginnen dabei aus logistischen Gründen meist nicht alle am gleichen Datum, sondern in der Reihenfolge der Rekrutierung.

Umgang mit zensierten Daten

Für die Berechnung der kumulativen Inzidenz nach obiger Formel muss jeder Studienteilnehmer über den gesamten Beobachtungszeitraum nachverfolgt werden. In der Praxis lässt sich jedoch nicht verhindern, dass einzelne Studienteilnehmer, bevor sie erkranken oder der Untersuchungszeitraum endet, sterben oder aus anderen Gründen aus der Studie ausscheiden. Durch diesen Verlust der Nachbeobachtung (englisch lost to follow-up) entstehen zensierte Daten. Würde man die verlorenen Studienteilnehmer einfach aus der Berechnung ausschließen, würde die kumulative Inzidenz überschätzt, denn je länger ein Studienteilnehmer bereits gesund geblieben ist, desto geringer ist sein Risiko, doch noch innerhalb des Beobachtungszeitraums krank zu werden. Würde man den verlorenen Studienteilnehmern pauschal unterstellen, gesund zu bleiben oder doch noch krank zu werden, würde die kumlative Inzidenz unterschätzt bzw. überschätzt.

Eine mögliche Lösung für dieses methodische Problem ist der Kaplan-Meier-Schätzer. Seine Anwendung setzt voraus, dass die Zeitpunkte erfasst werden, zu denen die Studienteilnehmer erkranken oder aus der Studie ausscheiden, und dass die Ausscheidewahrscheinlichkeit unabhängig von der Erkrankungswahrscheinlichkeit ist. Der Kaplan-Meier-Schätzer schätzt die Überlebensfunktion. Überleben ist hier im Sinne der Überlebenszeitanalyse allgemein als Nichteingetretensein eines Ereignisses zu verstehen. Heißt das betrachtete Ereignis Neuerkrankung, schätzt der Kaplan-Meier-Schätzer also den Anteil der noch Gesunden für jeden Zeitpunkt innerhalb des Untersuchungszeitraum. Die Differenz dieses Anteils zu eins ist nichts anders als die kumulative Inzidenz. Die Studienteilnehmer können so auch ganz bewusst unterschiedlich lange nachverfolgt werden, beispielsweise die zuerst rekrutierten am längsten, solange sich die zuerst rekrutierten nicht systematisch von den zuletzt rekrutierten unterscheiden.

Erkrankungsrate

Die Erkrankungsrate, auch Attack-Rate (englisch attack rate) ist – anders als ihr Name vermuten lässt – keine Rate, sondern eine kumulative Inzidenz. Sie bezeichnet den Anteil der Bevölkerung, der im Rahmen einer Epidemie die Krankheit entwickelt. Bei Epidemien sind bestimmte Bevölkerungen für eine begrenzte Zeitspanne einem bestimmten Infektionsrisiko ausgesetzt. Beispielsweise ist die Erkrankungsrate der Grippe der Anteil der Bevölkerung, der in einer Grippe-Saison die Grippe bekommt.[5]

Inzidenzdichte

Die Inzidenzdichte (abgekürzt mit I, im Englischen auch force of morbidity, deutsch etwa Krankheitsstärke[6]) ist ein Maß für den „Ausbreitungsdrang“ einer Krankheit.[7] Die Definition erfolgt mittels der sogenannten Risikozeit. Als Risikozeit ist die Zeit definiert, in der ein Individuum aus der Bevölkerung gesund ist, also dem Risiko der Erkrankung unterliegt. Die individuellen Risikozeiten werden zur sogenannten Personenzeit unter Risiko der betrachteten Bevölkerung im betrachteten Zeitraum addiert. Die Inzidenzdichte stellt somit keine Anforderungen an die Beobachtungsdauer der Studienteilnehmer; es kann genauso gut eine Person zwei Jahre lang wie zwei Personen ein Jahr lang nachverfolgt werden. Bei Tieren würde man nicht von Personenzeit, sondern von Bestandszeit sprechen. Die Inzidenzdichte ist definiert als Anzahl der Erkrankungsfälle dividiert durch die Personenzeit unter Risiko:[1]

Das Ergebnis einer solchen Berechnung ist eine Zahl zwischen 0 und ∞ pro Tag/pro Woche/pro x Jahre, wobei die verwendete Einheit mathematisch austauschbar ist und nichts über das Studiendesign aussagt. Die Inzidenzdichte ist im Gegensatz zur kumulativen Inzidenz von der Länge des Beobachtungszeitraums unabhängig, sofern sich die Dynamik der Erkrankungen nicht verändert. Sie ist eine Beziehungszahl und kann daher nicht als eine Wahrscheinlichkeit interpretiert werden.

Mehrmalige Erkrankungen derselben Person im Untersuchungszeitraum gehen anders als bei der kumulativen Inzidenz mehrfach in die Berechnung ein. Personen, die zu Beobachtungsbeginn bereits erkrankt waren, können in die Untersuchung eingeschlossen werden, da sie nach Genesung wieder Personenzeit unter Risiko oder sogar neue Erkrankungen beisteuern können. Bei Krankheiten, deren erstes Auftreten spätere Erkrankungen derselben Person wesentlich wahrscheinlicher (z. B. Herzinfarkt, Schlaganfall) oder unwahrscheinlicher (Immunität nach Infektionskrankheit) macht, ist es zweckmäßig, nur die erste Erkrankung zu untersuchen; Personen scheiden dann mit erstmaliger Erkrankung aus der Beobachtung aus, da sich auch keine Zeit unter dem Risiko einer Ersterkrankung mehr verbringen können.

Beispiel:

In Stadt X ereigneten sich 1973 unter den 40–44-jährigen Männern (41.532 Personenjahre) 29 Herzinfarkte. Damit betrug die Inzidenzdichte I = 29/41532 = 0, 00071/Jahr.[7]

Die Anzahl der Inzidenzfälle geteilt durch die Personenzeit unter Risiko ergibt eine durchschnittliche Inzidenzdichte oder schätzt eine als konstant angenommene Inzidenzdichte. Wird die Inzidenzdichte dagegen als veränderlich angenommen, lassen sich Augenblickswerte durch Ableitung der Anzahl der Inzidenzfälle nach der Personenzeit unter Risiko berechnen. Im Kontext der Überlebenszeitanalyse wird die augenblickliche Inzidenzdichte (englisch instantaneous incidence density) als Hazardrate bezeichnet.

Der Kehrwert der Inzidenzdichte ist die durchschnittliche Zeit unter Risiko . Diese ist zugleich die durchschnittliche Zeit zwischen zwei Erkrankungen und die Zeit, die ein aktuell gesundes Individuum bis zur Erkrankung zu erwarten hat.

Analog zur Inzidenz von Erkrankungen lässt sich eine Inzidenz der Genesungen definieren. Die Genesungsdichte (auch Rekurrenzrate oder Rekurrenzdichte) charakterisiert die Geschwindigkeit, mit die Erkrankten in die (gesunde) Bevölkerung unter Risiko zurückkehren[8] oder sterben.

Der Kehrwert der Genesungsgedichte ergibt die durchschnittliche Krankheitsdauer :

Inzidenzrate

Außerhalb klinischer Studien können meist nur Inzidenzfälle gezählt werden. Da diese natürlich von der Populationsgröße abhängen, macht es Sinn, sie auf die Populationsgröße zu beziehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass innerhalb des betrachteten Untersuchungszeitraums in der betrachteten Bevölkerung Ab- und Zuwanderung, Sterbefälle und Geburten auftreten. Teilt man die Anzahl der Inzidenzfälle durch die mittlere Populationsgröße im Beobachtungszeitraum, ergibt sich die Inzidenzrate.[9] Diese wird oft pro 1.000 oder 100.000 Personen angegeben.

Die Inzidenzrate ist eng mit der Inzidenzdichte verwand und wird von manchen Autoren mit dieser gleichgesetzt. Grund dafür ist, dass das Produkt aus zeitlichem Mittel der Populationsgröße und der Länge des Beobachtungszeitraums unter Vernachlässigung der krank verbrachten Zeiten gleich der Personenzeit unter Risiko ist.

Die unbearbeitete Inzidenzrate der Gesamtbevölkerung wird auch rohe Rate bzw. rohe Inzidenz genannt. Mit der rohen Rate kann man vergleichen, ob in einer Region im Vergleich zu einer anderen eine Krankheit häufiger auftritt. Unterscheiden sich rohe Raten zwischen zwei Regionen, lassen sich die Unterschiede oft auf Unterschiede in der Sozialstruktur zurückführen. Hohe Krebserkrankungsraten können beispielsweise schlicht Ausdruck einer alten Bevölkerung sein. Möchte man diese Unterschiede herausrechnen, um veränderliche Risikofaktoren zu identifizieren, können Subgruppen verglichen werden (z. B. gebildet nach Geschlecht, Beruf, Wohnort oder Alter). Alternativ können die Inzidenzfälle so gewichtet werden, dass sich eine Inzidenzrate für eine theoretische Bevölkerung mit definierter Sozialstruktur ergibt. Mit einer altersstandardisierten Inzidenzrate (englisch age-adjusted incidence rate) kann z. B. eine Region mit vielen alten Menschen mit einer Region mit vielen jungen Menschen vergleichen werden.

Mortalität

Die Mortalität (Sterblichkeit) ist ein Spezialfall der Inzidenz. Als Zielereignisse werden in diesem Fall nicht Erkrankungen, sondern Todesfälle gezählt. Dabei können wahlweise alle Todesfälle (rohe Mortalität) oder nur Tode aufgrund bestimmter Krankheiten betrachtet werden; außerdem kann natürlich die betrachtete Population eingegrenzt werden. Analog zur Inzidenz gibt es ebenfalls eine kumulative Mortalität, eine Mortalitätsdichte und eine Mortalitätsrate.[7] Da der Tod irreversibel ist und jederzeit eintreten kann, ist die Zeit unter Risiko identisch mit der Lebenszeit.

Betrachtungen bei konstanter Inzidenzdichte

In diesem Abschnitt wird durchweg eine konstante Inzidenzdichte angenommen. Die dargestellten Beziehungen sind also nur auf diejenigen Situationen übertragbar, in denen die Annahme einer konstanten Inzidenzdichte gerechtfertigt ist. Dies ist bei chronischen Krankheiten in der Regel der Fall, beim saisonalen Auftreten von Krankheiten oder bei Epidemien dagegen nicht.[10]

Zusammenhang zwischen Inzidenzdichte und Prävalenz

Die Inzidenzdichte und die Prävalenz stehen über die durchschnittliche Erkrankungsdauer miteinander in Zusammenhang. Der hier hergeleitete Zusammenhang gilt unter der Annahme, dass die Populationsgröße , die Inzidenzdichte und die Genesungsdichte konstant sind. Dann stellt sich ein Fließgleichgewicht ein, in dem die Anzahl der Kranken , die Anzahl der Gesunden und damit auch der Anteil der Kranken an der Gesamtbevölkerung, die Prävalenz , konstant sind. Das Fließgleichgewicht besteht darin, dass im zeitlichen Mittel die Frequenz der Erkrankungen gleich der Frequenz der Genesungen (inklusive Mortalität der Kranken) ist:

 
 
 (1)
 

Durch Quotientenbildung mit nachfolgender Kürzung des Bruches mit ergibt sich aus Gleichung (1)

 
 (2)
 

Durch Umstellung der Gleichung (2) ergeben sich

,
und
 
 (3)
 

Wenn die Voraussetzungen für ein Fließgleichgewicht gegeben sind, die gegenwärtige Prävalenz aber nicht Gleichung (3) entspricht, entwickelt sich die Prävalenz automatisch in Richtung des Fließgleichgewichts. Bei wird die Prävalenz also sinken, bei steigen.

An Gleichung (3) lässt sich außerdem ablesen, dass eine Krankheit sowohl durch eine hohe Inzidenzdichte (z. B. hochansteckender Keim) als auch durch eine niedrige Genesungsdichte (z. B. chronische Krankheiten) eine hohe Prävalenz erlangen kann. Schnelle Heilung oder rascher Tod führen dagegen über eine hohe Genesungsdichte zu einer niedrigen Prävalenz. Dies zeigt auf, dass die restriktiv erscheinende Annahme eines Populationsgleichgewichts bzw. eines Fließgleichgewichts im Rahmen einer etwaigen Pandemieeindämung Aussagen über den Erfolg von gesundheitspolitischen Maßnahmen zulässt.[11]

Gleichung (2) lässt sich wegen auch darstellen als

 
 (4)
 

Wenn die Prävalenz sehr klein ist (z. B. < 1 %), kann im Nenner von Gleichung (4) vernachlässigt werden. So ergibt sich die Näherung[7]

 
 (5)
 

Das Produkt aus Inzidenzdichte und durchschnittlicher Krankheitsdauer kann als der „Anteil des Krankenstandes“ in einer Bevölkerung auf gesunde Personen bezogen (z. B. auf 100.000) interpretiert werden.

Statistische Beziehungen

Verteilung der Anzahl der Erkrankungen

Die Anzahl der Erkrankungen während der Personenzeit ist Poisson-verteilt () mit dem Verteilungsparameter (Ereignisrate). Bei einer Poisson-Verteilung ist zugleich der Erwartungswert (die erwartete Anzahl der Erkrankungen) und die Varianz.

Verteilung der Personenzeit bis zur ersten Erkrankung

Die Personenzeit bis zur ersten Erkrankung oder zwischen zwei Erkrankungen ist exponentialverteilt () mit dem Verteilungsparameter . Erwartungswert und Standardabweichung betragen damit .

Berechnung der kumulativen Inzidenz aus der Inzidenzdichte

Durch Integration der Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion der Exponentialverteilung erhält man die Verteilungsfunktion der Exponentialverteilung; diese liefert für jeden Zeitpunkt die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Individuum bis dahin mindestens einmal erkrankt ist. Dies ist nichts Anderes als die kumulative Inzidenz CI, die sich somit aus der Inzidenzdichte berechnen lässt:[7]

 
 (6)
 

Beispiel:

Bei einer Inzidenzdichte von 0,008/Jahr ergibt sich für die Erkrankungswahrscheinlichkeit innerhalb von 3 Jahren
.

Da sich die Exponentialfunktion für kleine durch annähern lässt, kann die Formel vereinfacht werden, wenn das Produkt aus Inzidenzdichte und Beobachtungszeitraum klein ist (z. B. ). In diesem Fall folgt näherungsweise die wichtige Beziehung[7]

 
 (7)
 

Die Zahlenwerte von kumulativen Inzidenzen (angegeben als Anteil in einem Jahr) unterscheiden sich deshalb bei manchen Krankheiten kaum von Inzidenzdichten (angegeben als Zahl pro Jahr).

Abgeleitete Maßzahlen

Das Verhältnis der kumulativen Inzidenz Exponierter zur kumulativen Inzidenz Nichtexponierter heißt relatives Risiko (die Differenz dieses Quotienten zu 1 relative Risikoreduktion bzw. -steigerung):

Hierbei stellt die kumulative Inzidenz unter den Exponierten und die kumulative Inzidenz unter den nicht Exponierten dar. Ist das relative Risiko größer 1, vergrößert die Exposition das Erkrankungsrisiko. Ist das relative Risiko kleiner 1, verkleinert die Exposition das Erkrankungsrisiko. Je stärker sich das relative Risiko von 1 unterscheidet, desto stärker ist der Zusammenhang zwischen Erkrankung und Exposition[12] und desto eher ist von einem kausalen Effekt auszugehen.[13]

Analog zum relativen Risiko lässt sich als Quotient zweier Inzidenzraten die relative Rate (hier Rate statt Risiko, da sich Zähler und Nenner nicht als Wahrscheinlichkeiten interpretieren lassen) berechnen:

Hierbei stellt die Inzidenzrate unter den Exponierten und die Inzidenzrate unter den nicht Exponierten dar. Solange der Zusammenhang gilt (Gleichung (7) unter #Berechnung der kumulativen Inzidenz aus der Inzidenzdichte), haben beide Maßzahlen annähernd denselben Wert, sodass relative Raten wie relative Risiken interpretiert werden können.

Standardfehler

Zur Durchführung von Signifikanztests und Berechnung von Konfidenzintervallen können bei großen Stichprobenumfängen die folgenden Standardfehler benutzt werden:[14]

Kumulative Inzidenz Inzidenzdichte
Differenz zweier kumulativer Inzidenzen/Inzidenzdichten
Natürlicher Logarithmus des Verhältnisses zweier kumulativer Inzidenzen/Inzidenzdichten. Um die Grenzen des 95-%-Konfidenzintervalls zu berechnen, muss der Punktschätzer folglich durch exp(1,96·Standardfehler) geteilt bzw. damit multipliziert werden.

Literatur

  • Kreienbrock, Pigeot, Ahrens: Epidemiologische Methoden. 5. Auflage. Springer Spektrum, Berlin/Heidelberg 2012, ISBN 978-3-8274-2333-7, Kapitel 2 Epidemiologische Maßzahlen.
  • Kenneth J. Rothman: Epidemiology – An Introduction. 2. Auflage. Oxford University Press, 2012, ISBN 978-0-19-975455-7, Kapitel 4 Measuring Disease Occurrence and Causal Effects.

Einzelnachweise

  1. a b Lothar Sachs, Jürgen Hedderich: Angewandte Statistik: Methodensammlung mit R. 8., überarb. und erg. Auflage. Springer Spektrum, Berlin/ Heidelberg 2018, ISBN 978-3-662-56657-2, S. 197
  2. Robert Koch-Institut: GBE-Glossar.
  3. Matthias Egger, Oliver Razum et al.: Public health kompakt. Walter de Gruyter, (2017)
  4. Uwe Truyen, Peter Valentin-Weigand: Tiermedizinische Mikrobiologie, Infektions- und Seuchenlehre. Georg Thieme Verlag (2015).
  5. Kenneth J. Rothman: Epidemiology – An Introduction. 2. Auflage. Oxford University Press, 2012, ISBN 978-0-19-975455-7, S. 42.
  6. Lothar Kreienbrock, Iris Pigeot und Wolfgang Ahrens: Epidemiologische Methoden. 5. Auflage. Springer Spektrum, Berlin/ Heidelberg 2012, ISBN 978-0-19-975455-7, S. 25
  7. a b c d e f Lothar Sachs, Jürgen Hedderich: Angewandte Statistik: Methodensammlung mit R. 8., überarb. und erg. Auflage. Springer Spektrum, Berlin/ Heidelberg 2018, ISBN 978-3-662-56657-2, S. 198.
  8. Robert Koch-Institut: GBE-Glossar.
  9. Robert Koch-Institut: GBE-Glossar.
  10. Lothar Kreienbrock, Iris Pigeot und Wolfgang Ahrens: Epidemiologische Methoden. 5. Auflage. Springer Spektrum, Berlin/ Heidelberg 2012, ISBN 978-0-19-975455-7, S. 29
  11. Lothar Kreienbrock, Iris Pigeot und Wolfgang Ahrens: Epidemiologische Methoden. 5. Auflage. Springer Spektrum, Berlin/ Heidelberg 2012, ISBN 978-0-19-975455-7, S. 27
  12. Matthias Egger, Oliver Razum et al.: Public health kompakt. Walter de Gruyter, (2017). S. 30.
  13. Lothar Sachs, Jürgen Hedderich: Angewandte Statistik: Methodensammlung mit R. 8., überarb. und erg. Auflage. Springer Spektrum, Berlin/ Heidelberg 2018, ISBN 978-3-662-56657-2, S. 693.
  14. Kenneth J. Rothman: Epidemiology – An Introduction. 2. Auflage. Oxford University Press, 2012, ISBN 978-0-19-975455-7, S. 165 ff.