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Seite:Die Gartenlaube (1866) 430.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Die riesigen Ziegelsteinmassen, aus denen ihre Handelspaläste aufgethürmt waren, drückten sich immer tiefer in den Morast hinein. Der kaufmännische Credit der Stadt, ihr Lebensnerv, hing von ihrer glänzenden Außenseite mindestens ebensosehr ab, wie von ihrer pünktlichen Zinsenzahlung. In Kellern voll Wasser konnte man keine Magazine halten, wie ein solcher Welthandelsplatz sie braucht; auf sumpfigen Straßen konnte kein lebhafter Verkehr stattfinden; eine ungesunde Lage mußte auf das Kommen neuer Ansiedler abschreckend einwirken. Zu solcher verzweifelten Lage wären die Bewohner jeder europäischen Großstadt vielleicht rathlos gewesen und geblieben und hätten bei Regierung und Vorsehung petitionirt, bis ihr Untergang unvermeidlich geworden wäre. Nicht so bei einer Bevölkerung freier amerikanischer Bürger, welche wohl oder übel sich nur auf sich selbst verlassen dürfen und mögen. Der Stadtrath beschließt – Dank dem damaligen Bürgermeister John Wentworth – die ganze Stadt zehn Fuß hoch zu heben.

Meine europäischen Leser und Leserinnen werden sich bei dieser Stelle meines Berichtes wohl die Augen reiben, ob sie auch recht gelesen haben. Wie, eine ganze Stadt von Steinpalästen zehn Fuß hoch in die Luft zu heben? Und wenn sie da hängt, was dann? Nun, dann soll Rost unter den Häusern geschlagen und dann sollen die Häuser auf den Rost (die eingerammten Balken) aufgesetzt und somit Häuser, Straßen und Alles zehn Fuß höher, als bisher, gelegt werden. Und wie macht man das? fragt, wer noch nie davon gehört hat, daß man in Amerika das Emporheben von Häusern schon lange vorher und häufig prakticirt hatte, ja, daß man sogar mitunter große und kleine Gebäude auf Walzen setzt und bergauf, bergab, wenn es nur die Kosten deckt, an andere Stellen befördert. Man legt mächtige Balken längsweise unter die vier Grundmauern, hebt dieselben durch Schrauben in die Höhe, welche gleichzeitig um ein Viertel- oder Achtelgewinde emporgedreht werden, so daß das ganze Gebäude überall gleich sehr gehoben wird, und wenn es hoch genug gehoben ist, unterführt man es mit neuen Grundmauern. In Chicago freilich hob man ganze Häuservierecke, zwei- bis vierhundert Fuß lang und halb so breit, auf einmal; in so großem Maßstäbe hatte man dieses Balancir-Kunststück vorher noch nie versucht. Und bei diesem halsbrechenden Verfahren bricht kein Haus zusammen? Davon ist noch kein Beispiel bei den sprüchwörtlich leichtsinnigen Yankees vorgekommen. Man ist vielmehr seiner Sache so gewiß, daß man ruhig in dem Hause wohnen bleibt und darin Geschäfte macht, während es gehoben wird. In Chicago benutzte man während des Hebens viele der riesigsten Handelspaläste nach wie vor. Es gab Häuservierecke von sechstausend Tonnen Last und darüber, welche auf einmal viertelzollweise gen Himmel spedirt wurden, während man darin Geschäften oblag, bei welchen es sich um halbe und ganze Millionen Eigenthums handelte. Zuletzt wandte man, um größerer Zeitersparniß willen, die hydraulische Presse an. Eine einzige Pumpe, von wenig Menschenhänden in Bewegung gesetzt, hob diese Tausende von Tonnen Last so leicht und gefahrlos empor, wie es eine hydraulische Presse, diese wundervolle Erfindung, deren Einrichtung in jedem Handbuche der Naturlehre studirt werden kann, eben nur im Stande ist.

Um den Bürgern, von denen manchen bei den ungemeinen Kosten des Hebens ihrer Gebäude wohl der Kopf schwindeln mochte, Muth dazu zu machen, übernahm der Stadtrath die Kosten auf städtische Rechnung und ließ die Eigenthümer blos die mäßigen Zinsen für das dazu erforderliche Capital bezahlen. Und so ist denn die ganze Stadt Chicago jetzt gehoben, zehn Fuß über ihre frühere Höhe, und ist aus der schmutzigsten eine der reinlichsten, gesündesten und stattlichsten der neuen Welt geworden. Freilich, während der Hebungsarbeit war es ein unangenehmes Gehen und Fahren durch die Straßen. Während ein Haus oder eine Reihe Gebäude schon hoch oben befestigt waren, standen die benachbarten noch in der alten Tiefe und auf einige hundert Fuß Straße hatte man oft ein halbes Dutzend kurze, steile Berge oder Treppen und ebensoviele Thäler zu überwinden. Aber in sechs bis sieben Jahren ist das Wunder geschehen, und daß es ausgeführt worden ist, hat dem Unternehmungsgeist und Gemeinsinn der Bürger Chicago’s in den Augen des ganzen Landes zu seiner jetzigen Höhe verholfen.

Damit nicht zufrieden, machten sich die Behörden der Stadt sofort an ein nicht minder wunderbares Unternehmen. Eine so große und so riesig wachsende Stadt braucht viel Trinkwasser und Wasser der besten Güte überhaupt. Bis dahin hatte man sich, da der Boden wenig gute Brunnen gestattete, meist mit dem Wasser des Flusses, mit Cisternen und zuletzt mit einer Röhrenleitung aus dem Michigan-See versorgt. Allein der Schmutz, welchen eine so große Stadt in ihre Abzugscanäle entsendet und der hier durch den Fluß in den See mündet, begann das Wasser desselben weit hinaus zu vergiften. Wie bei vielen anderen amerikanischen Großstädten war es unmöglich, eine Wasserleitung dadurch herzustellen, daß man einen Fluß abdämmte und in Röhren auffing. Denn theils lagen die nächsten Flüsse zu fern, theils waren sie zu wasserarm und ihr Niveau zu tief. Man mußte eine Wasserleitung schaffen, die für eine Bevölkerung von vielen Millionen genügte, denn auf eine solche rechnen die ehemaligen Dörfler von Chicago. Woher das Wasser nehmen, als aus dem prächtigen Becken des Michigan-Sees? Aber dann mußte man es weit draußen abzapfen, wohin der hinausgespülte Unrath der großen Stadt nicht dringt. Ueber eine englische Meile weit mußte man hinausgehen an die reine Quelle, wo der See schon über fünfzig Fuß tief ist. Es blieb also nichts übrig, wollte man ein Werk für alle Zeiten schaffen, als einen Tunnel unter den Seegrund hinaus zu treiben, bis dahin, wohin die Verunreinigung des Wassers des Sees nicht mehr reicht – und diese Riesenarbeit ist ebenfalls nahezu vollendet. Der Tunnel selbst ist fertig; es bleibt blos noch der Schacht, in welchen von oben herab das filtrirte Wasser eindringen soll, und in wenigen Monaten wird auch dieser fertig sein. Dieser Tunnel hat mehr als Manneshöhe; es wird also die Stadt über einen Wasserreichthum gebieten, wie keine andere Stadt der Welt, und er wird ihr durch keinen Belagerer, durch keinen erdenklichen Zufall abgeschnitten werden können. Was ist – fragt man endlich mit Recht – solchen Männern unmöglich, wie diejenigen sind welche Chicago zu Chicago gemacht haben?

Kommen wir jetzt auf die Geschichte dieser Stadt während des Sonderbundkrieges. Es ist ein heikles Ding, einzelne Städte und Staaten auszeichnen zu wollen, wo alle weit über ihre Schuldigkeit gethan haben, wo innerhalb der sechszehn Millionen loyaler Bevölkerung des Landes jeder Einzelne sich im Patriotismus selbst übertroffen hat. Allein man wird wohl Chicago die Palme zugestehen müssen. Keine Stadt, kein Bezirk des Nordens hat mehr Truppen aufgebracht im Verhältniß zur Bevölkerung, wie denn überhaupt der ganze Staat Illinois weit über seinen gesetzlichen Antheil hinaus zur Rettung des Vaterlandes beigetragen hat. Es wird Europäern, welche daran gewöhnt sind, ein, zwei, höchstens drei Procent der Bevölkerung für kriegstüchtig zu betrachten, beinahe unglaublich erscheinen, wenn wir sagen, Chicago und Illinois überhaupt haben zum Unionskriege über zehn Procent der Ihrigen gestellt, alle freiwillig, und von diesen ist ein volles Viertel aus dem Kampfe nicht zurückgekehrt! Der Geist aber, mit welchem so große Opfer gebracht wurden, bleibt doch dabei die Hauptsache. Die Illinoistruppen waren an Qualität immer vorzüglich; sie wurden vom Staate wohl ausgerüstet entlassen; sie haben an dem Verdienste der Rettung Missouri’s, Kentucky’s und Tennessee’s einen Hauptantheil, und ihr Blut ist auf fast allen Schlachtfeldern der Union geflossen.

Für einen Deutschen ist es ein überaus wohlthuendes Gefühl, zu wissen, daß ein volles Drittel der Bewohnerschaft von Chicago und Illinois aus seinen Landsleuten besteht. Die Deutschen gehörten zu den frühesten Ansiedlern beider. Vielleicht die älteste reindeutsche Ansiedlung des Staates ist die von St. Clair County, worin Belleville, ein fast rein deutsches Oertchen, schon 1834 begründet wurde. Von dort und von Chicago aus, welches von Anbeginn eine verhältnißmäßig starke deutsche Bevölkerung enthielt, verbreitete sich der Strom der nachachtundvierziger Einwanderung den Eisenbahnen und dem Canal entlang, rationellen Ackerbau, Gewerbe, Handel, Kunst und Wissenschaft mit sich bringend. Wenn irgendwo, so hat in Illinois diese deutsche Bevölkerung verstanden, von den Angloamerikanern zu lernen und sie zu lehren. Dort hat die National-Eifersüchtelei zwischen beiden aufgehört, anders als vortheilhaft zu wirken. Im Staate Illinois besteht deshalb auch die Einrichtung, daß an den öffentlichen (Frei-) Schulen die deutsche Sprache überall, wo eine stärkere deutsche Bevölkerung sich befindet, durch besondere Lehrer und Lehrstunden vertreten ist. Dort wenigstens sind die Deutschen durchweg geachtet und vollauf gleichberechtigt. Sie werden ohne Unterschied als Beamte gewählt und in politischen Fragen um ihre Meinung mitbefragt; sie haben ihren rechtmäßigen Einfluß und machen ihn geltend.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 430. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_430.jpg&oldid=- (Version vom 4.7.2020)