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Seite:Die Gartenlaube (1866) 099.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

„Ja wohl, schon seit meiner Kinderzeit.“

„Weißt auch, was es für eine Bewandtniß mit unserer Herkunft hat?“

„Nein.“

„Nun, es ist freilich schon ein wenig lange her und ich bin vielleicht noch der Einzige, der die Geschichte kennt; aber ganz verlieren soll sie sich doch nicht, das Andenken ist ja der einzige Dank, den wir Nachkommen für eine brave That haben können; drum sollst Du die Geschichte jetzt hören und später einmal erzählst Du sie weiter. … Vor etwa zweihundert Jahren – Du siehst, wir können unsern Stammbaum auch ein gutes Stück zurückleiten, nur schade, daß wir nicht zu sagen wissen, wer unsere Ahnenmutter war, solltest Du indeß einmal darum befragt werden, vielleicht von der Frau Baronin Lessen und dergleichen, so kannst Du getrost sagen, daß wir vermuthen, es sei – wenn auch nicht gerade die Gustel von Blasewitz, denn die Geschichte spielt im dreißigjährigen Krieg, – so doch eine Marketenderfrau gewesen. … Vielleicht war es auch eine rechtschaffene, brave Frau, die bei ihrem Mann in allen Bedrängnissen des Krieges treu ausgehalten hat; aber verzeihen kann ich’s ihr doch nicht, daß sie ihr Kind verlassen konnte … Nun also, vor etwa zweihundert Jahren sieht die Frau des Jägers Ferber, als sie in der Morgenfrühe die Hausthür aufmacht – dieselbe, die jetzt auch mein Hab und Gut verschließt – ein Kindlein auf der Schwelle liegen. Heisa, die hat die Thür wacker zugeschlagen, denn damals hat sich viel Zigeunergesindel in den Wäldern umhergetrieben und sie hat gemeint, es sei solch’ ein unreines Wesen. Ihr Mann aber war christlicher, er hat das Kind hereingeholt, es war kaum einen Tag alt. Auf seiner Brust hat ein Zettel gelegen, der hat besagt, man möge sich des kleinen Knaben annehmen, er sei ehelich geboren und habe in der heiligen Taufe den Namen Hans erhalten, man werde später Näheres über das Kind erfahren. In dem Wickelkissen hat auch ein Beutelchen mit etwas Geld gesteckt. Die Jägerfrau ist sonst ein gutes Weib gewesen, und als sie gehört hat, daß der Knabe von christlichen Eltern und wahrscheinlich ein ehrlich Soldatenkind sei, das wohl die Eltern ausgesetzt hatten, um es nicht in die Gefahren des Krieges zu bringen, da hat sie ihn an ihr Herz genommen und ihn mit ihrem kleinen Mädchen aufgezogen, als ob sie Geschwister seien. Und das war sein Glück, denn es hat sich keine Menschenseele von seinen Verwandten wieder um ihn gekümmert. Später hat ihn sein Pflegevater adoptirt, und um sein Glück voll zu machen, hat er auch sein schönes Milchschwesterlein heimführen dürfen. Er sowohl, wie auch sein Sohn und ein Enkel haben als Jäger der von Gnadewitz in meiner jetzigen Wohnung gelebt und sind auch darin gestorben. Erst mein Großvater ist auf die Besitzung nach Schlesien versetzt worden … Als Knabe ärgerte ich mich immer unbeschreiblich, daß nicht nach so und so viel Jahren eine gräfliche Mutter aufgetaucht war, die in dem Findling ihr durch Bosheit geraubtes Kind erkannt und ihn triumphirend in ihr Schloß zurückgeführt hatte. Diese fehlende romantische Wendung im Geschick unseres Ahnherrn habe ich freilich später um so lieber verschmerzt, als mir der Gedanke kam, daß mein Erscheinen auf dieser schönen Welt dann doch vielleicht ein sehr zweifelhaftes sei; auch gefiel mir mein wackerer Name zu gut, als daß ich einen anderen hätte führen mögen … Aber wunderbar war mir doch zu Muthe, als ich zum ersten Male die Schwelle überschritt, auf welcher der kleine Ausgesetzte wohl den hülflosesten Augenblick seines Lebens verbringen müßte; seine natürlichen Versorger hatten ihn verlassen und das Mitleid hatte ihre Stelle noch nicht eingenommen… Der tief ausgetretene Stein ist ohne Zweifel noch derselbe, auf dem das Kind gelegen hat, und so lange ich lebe oder in dem Hause etwas zu sagen habe, soll er nicht von seiner Stelle gerückt werden.“

Plötzlich bog sich der Oberförster vor und deutete durch die Zweige, denn man fuhr bereits im Walde.

„Siehst Du dort den weißen Punkt?“ fragte er.

Der weiße Punkt war die Haube Sabinens, welche vor der Thür saß und auf die Rückkehrenden aufschaute. Als sie des Wagens ansichtig wurde, stand sie eilig auf, schüttete den Inhalt ihrer Schürze, der sich später als eine Menge Vergißmeinnicht auswies, in einen neben ihr stehenden Korb und ging den Ankommenden entgegen.

Noch eine Zeit lang saß heute Abend Elisabeth mit dem Onkel zusammen. In dem Oberförster waren eine Menge Erinnerungen wach geworden. Mit dem Erzählen der zweihundertjährigen Familiengeschichte waren auch viele Entschlüsse, Pläne und Empfindungen seiner Jugendzeit aufgetaucht, die er jetzt mitleidig lächelnd an sich vorübergehen ließ; sie waren sammt und sonders vor dem reellen Leben zerstoben, wie Spreu im Winde. Er erzählte behaglich, wie Einer, der auf sicherem Lande steht und nur von fern noch das Rauschen der Brandung hört, die ihm nichts mehr anhaben kann. Manchmal fiel auch ein Witzwort oder eine Neckerei dazwischen, die von Elisabeth oder Sabine, wem es gerade galt, gehörig parirt und zurückgegeben wurde.

Mittlerweile war der Mond groß und voll über die Baummassen getreten, es wurde Zeit, daß Elisabeth an den Heimweg dachte.

„Schönen Dank für die Spazierfahrt! Gute Nacht, Herzensonkel!“ rief sie, während sie den Kranz, den die alte Sabine inzwischen aus ihren Vergißmeinnicht gewunden hatte, sich scherzend auf das blonde Haar drückte, eilte durch Haus und Hof und stand bald droben auf dem Berge außerhalb des Gartens, dessen Thür sie zuschlug. Sie flog auf dem schmalen, mondbeglänzten Waldweg aufwärts. Droben im Wohnzimmer brannte die Lampe; der Lichtschimmer war trotz der Mondbeleuchtung weithin sichtbar, weil die Fronte des Zwischenbaues im tiefen Schatten lag.

Als sie auf die Waldblöße heraustrat, fiel ein merkwürdiger Schatten quer über ihren Weg … Das war weder ein Baum, noch ein Pfahl, sondern eine fremde Männergestalt, die seitwärts gestanden hatte und jetzt zu ihrem Schrecken auf sie zuschritt. Die Erscheinung nahm höflich den Hut ab und in dem Augenblick verschwand Elisabeth’s Furcht, denn sie blickte in das lächelnde, gutmüthige Gesicht eines ältlichen, feingekleideten Herrn.

„Verzeihung, mein Fräulein, wenn ich Ihnen vielleicht einen kleinen Schrecken eingejagt habe,“ sagte er und blickte freundlich über zwei große, funkelnde Brillengläser hinweg in ihr Gesicht, „aber ich habe es weder auf Ihr Leben, noch auf Ihre Börse abgesehen und bin nichts weiter, als ein heimkehrender, friedlicher Reisender, der gern wissen möchte, was es mit dem Licht da droben in den Ruinen für ein Bewenden hat … Ich überzeuge mich übrigens in diesem Augenblicke, daß es ganz überflüssig war, zu fragen … Die Feen und Elfen führen dort ihren Reigen auf und die schönste streift im Walde umher, um Keinen ungestraft des Weges ziehen zu lassen, der ihren gefeiten Ring betritt.“

Der galante Vergleich, so abgenutzt er übrigens auch sein mochte, war doch in diesem Augenblick nicht übel angewendet, denn die schlanke Mädchengestalt im weißen Gewande, den blauen Kranz über dem engelschönen Gesicht und vom Mondlicht umflossen, konnte recht wohl für eine Märchenerscheinung gelten, als sie so leicht durch die Gebüsche über den einsamen Berg dahinflog.

Sie selbst aber lachte innerlich über das seichte Compliment und dachte zugleich ein wenig entrüstet, sie sähe doch wahrhaftig nicht so leichtfertig aus, wie solch ein quecksilbernes Elfenkind, und das wolle sie dem alten Herrn auf der Stelle klar machen.

„Es thut mir leid,“ sagte sie leicht, „daß ich Sie in die rauhe Wirklichkeit zurückführen muß, aber ich wüßte wahrhaftig nicht, wie ich es anfangen sollte, dort in dem Licht etwas Anderes zu sehen, als die respectable Lampe in der gemüthlichen Stube eines fürstlich L.’schen Forstschreibers.“

„Ei,“ lachte der Herr, „und haust der Mann ganz allein in den unheimlichen alten Mauern?“

„Er könnte es getrost wagen, denn über den, der den rechten Weg wandelt, haben die ‚Unheimlichen‘ keine Gewalt … Uebrigens leisten ihm noch einige lebende Wesen Gesellschaft, unter Anderen auch zwei gutgeartete Ziegen und ein allerliebster Canarienvogel; die Eulen ungerechnet, die sich jedoch sehr indignirt in’s Privatleben zurückgezogen haben, weil sich das Treiben lustiger Menschenkinder nicht mit der ernsten Lebensanschauung dieser gestrengen Herren verträgt.“

„Oder auch, weil sie lichtscheu sind und es nicht vertragen können …“

„Daß der neue Ankömmling die Wahrheit verehrt?“

„Auch möglich … Ich wollte aber eigentlich sagen, daß sie die zwei Sonnen fliehen, die plötzlich in den Ruinen aufgegangen sind.“

„Zwei Sonnen auf einmal? … Das wäre aber auch eine starke Zumuthung für die armen Eulenaugen und möchte selbst einem Feueranbeter zu viel werden!“ entgegnete lachend Elisabeth,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_099.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)