verschiedene: Die Gartenlaube (1866) | |
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Züge verriethen den höchsten Schmerz, während in ihren thränenlosen Augen die unheimliche, düstere Gluth der Rache loderte. Leise näherte ich mich dem Kranken, der nur durch ein schwaches, unterbrochenes Athmen ein kaum bemerkbares Lebenszeichen von sich gab. Bei meiner genaueren Untersuchung entdeckte ich am Kopfe eine Schußwunde; die Kugel mußte nach meinem Dafürhalten in das Gehirn gedrungen sein, weshalb mir die Verletzung tödtlich erschien und keine Hoffnung auf Genesung zuließ.
Der anwesende Polizeibeamte forderte mich auf, mein ärztliches Gutachten, so wie meine Kenntniß von dem ganzen Vorfall zu Protokoll zu geben. Letztere beschränkte sich natürlich nur auf meine Wahrnehmungen und Beobachtungen aus früherer Zeit, wobei ich nicht verschweigen konnte und wollte, was ich über den Streit zwischen dem Lieutenant und dem Angeklagten wußte. Außer mir wurden noch einige Zeugen vernommen, verschiedene Bewohner des Hauses und der Schaffner des Gutes, dessen Aussagen besonders gravirend waren. Derselbe bekundete, daß er, durch das Bellen des Hofhundes geweckt und aufmerksam gemacht, gegen Mitternacht aufgestanden sei, indem er einen Einbruch von Dieben in das Schloß befürchtete. In der Nähe desselben bemerkte er im Mondenschein deutlich eine dunkle, in einen Soldatenmantel gehüllte Gestalt zwischen den Bäumen des Parkes schleichen. Ehe er jedoch sich nähern konnte, war ihm ein Anderer, in dem er den Gutsherrn zu erkennen glaubte, zuvorgekommen. Beide Männer waren bald in einen Kampf verwickelt, ein Schuß drang an sein Ohr und zugleich sank der Erste zu Boden, während sein Gegner zwischen den Gebüschen plötzlich verschwand. Der ganze Vorfall hatte kaum einige Minuten gedauert, und als er jetzt erschrocken hinzueilte, fand er den Lieutenant in seinem Blute. Auf sein Schreien um Hülfe und wiederholtes Pochen öffnete sich die Thür des Schlosses, aus der ihm der Gutsherr, vollkommen angekleidet und mit einem Revolver bewaffnet, entgegentrat. Andere Zeugen bestätigten und verstärkten noch diese Aussage des Schaffners durch ihre Wissenschaft, ohne jedoch etwas Erhebliches aus eigener Beobachtung hinzuzufügen.
Nachdem der Beamte sein vorläufiges Protokoll geschlossen hatte, forderte er den Angeklagten auf, der seine Unschuld wiederholt betheuerte, den bereitstehenden Wagen zu besteigen und ihm nach dem Stadtgefängniß zu folgen. Ich selbst blieb noch zurück, um für die unglückliche Frau und den Verwundeten Sorge zu tragen. Da die Generalin durchaus ihren Sohn nicht länger unter dem verhaßten Dache dulden wollte, so wurde eine Tragbahre herbeigeschafft und der fast sterbende Officier unter meiner Leitung auf diese Weise nach dem Schlosse seiner Mutter transportirt. Seine fernere Behandlung, wenn von einer solchen noch die Rede sein konnte, übernahm der mir befreundete Hausarzt der Generalin.
Alle Welt war von Brand’s Schuld überzeugt, nur nicht seine Frau, welche ihn allein von jedem Verdachte freisprach und ihm in seinem Unglück eine seltene Treue und Opferfähigkeit bewies, so daß ich an ihrer Liebe für ihn und ihrer Unschuld in Bezug auf den Lieutenant nicht länger zweifeln konnte. Sie war, sobald sie sich erholt hatte, in die Stadt gezogen, um ihrem Manne näher zu sein. So oft es ihr gestattet war, besuchte sie ihn in seinem Gefängnisse; auch ließ sie kein Mittel unversucht, um ihn zu befreien. Eine bedeutende Caution, die sie zu diesem Zwecke anbot, wurde jedoch nicht angenommen, da der Untersuchungsrichter das allgemeine Vorurtheil gegen den Angeklagten mehr oder minder zu theilen schien. Unter solchen Verhältnissen ließ sich fast mit Gewißheit annehmen, daß ihn die Geschworenen schuldig finden würden. Für diesen Fall hatte Brand eine lebenslängliche Zuchthausstrafe, wenn nicht gar den schimpflichen Tod durch das Beil des Henkers zu erwarten.
Einige Wochen vor der öffentlichen Schwurgerichtssitzung, in welcher der Fall zur Verhandlung kommen sollte, besuchte mich der Hausarzt der Generalin und machte mir eine interessante Mittheilung über den Zustand des verwundeten Officiers. Dieser war wider Erwarten noch immer am Leben, aber in fortwährender Todesgefahr, weshalb mich mein College aufforderte, den Patienten zu sehen und an einem Consilium über ihn theilzunehmen, zu dem auch ein berühmter Operateur und Wundarzt aus der Residenz berufen war.
Zur festgesetzten Stunde begab ich mich nach dem Schlosse der mir bekannten Generalin, wo ich bereits den Geheimrath und den Hausarzt vorfand. Wir traten in das dunkle Krankenzimmer, um den jetzigen Zustand des Patienten genauer zu untersuchen. Derselbe bot in der That ein eben so trauriges als wunderbares Bild dar, wie es gewiß nur selten dem Arzte vorkommen mag. Das Bewußtsein fehlte fast gänzlich und äußerte sich höchstens in thierischen Trieben; die rechte Seite war vollständig gelähmt, ebenso die Zunge, die nur unverständliche Töne zu lallen vermochte. Der Kranke kannte weder seine Mutter, noch seine übrige Umgebung; er lag den größten Theil des Tages mit halbgeschlossenen Augen in dumpfer Betäubung vor sich hindämmernd. Sein Gesicht war leichenblaß und gedunsen, der Körper im höchsten Grade abgemagert.
Nachdem die Untersuchung beendet war, zogen wir uns in das anstoßende Zimmer zurück, um uns über den eigenthümlichen Fall zu berathen. Es war kein Zweifel, daß die noch im Gehirn steckende Kugel und vielleicht vorhandene Knochensplitter oder Eiteransammlungen einen Druck auf das Organ ausübten und die Lähmung verursachten. Die Hauptfrage war nur die, ob unter diesen Umständen eine so verspätete Operation zu rechtfertigen wäre. Der berühmte Operateur war dafür und erzählte von einigen, wenn auch höchst seltenen Fällen, wo dieselbe unter ähnlichen Verhältnissen geglückt war. Ich selbst stimmte ihm bei und auch der Hausarzt gab schließlich nach, obgleich er anfänglich sich dagegen erklärt hatte.
Es handelte sich nur noch darum, die Einwilligung der verzweifelten und unglücklichen Mutter zu erhalten, der wir nicht die große Gefahr einer solchen Operation verschwiegen.
„Thun Sie,“ sagte diese, „was Sie vor Ihrem Gewissen verantworten können. Besser, daß mein Sohn stirbt und von seinen Qualen erlöst wird, als daß er in diesem traurigen Zustande fortlebt.“
Da der Geheimrath die nöthigen Instrumente zur Hand hatte, so wurde sofort von ihm an die Ausführung gegangen. Bekanntlich gehört die sogenannte Trepanation oder Eröffnung der Schädelhöhle, wenn auch nicht zu den schwierigsten, doch zu den gefährlichsten und mühevollsten Operationen. Es wird dabei mittelst einer Art von kreisförmiger Säge, die man durch einen besonderen hebelartigen Apparat in Bewegung setzt, ein rundes Knochenstück herausgeschnitten, vorsichtig herausgehoben und die darunter befindliche „harte Hirnhaut“ blosgelegt und eingeschnitten. Mit großer Geschicklichkeit vollbrachte der berühmte Operateur diese verschiedenen Manipulationen, wobei ich ihm zu assistiren die Ehre hatte. Während der ganzen Zeit gab der arme Patient keinen Laut, kein Zeichen von Empfindung, so daß er zu seinem Glück ganz gefühllos zu sein und den sonst furchtbaren Schmerz kaum zu spüren schien.
Nach Verlauf einer Viertelstunde, die mir eine Ewigkeit dünkte, war das betreffende Knochenstück in der Größe eines Thalers herausgeschnitten und entfernt, so daß man unter der bläulichen Haut das Gehirn durchschimmern und das Heben und Senken desselben bei jedem Athemzuge des Kranken deutlich bemerken konnte. Ein Schnitt in der Richtung der Wunde, von der sicheren Hand des Operateurs geführt, deckte jetzt den inneren, schmalen Schußcanal auf, in welchem die mit größter Vorsicht eingeleitete Sonde die noch darin verweilende Kugel nachwies. Erst jetzt kam der schwierigste Theil der ganzen Aufgabe, die Entfernung derselben durch die Kugelzange. Wider Erwarten gelang die Auffindung und Herausziehung in überraschend schneller Zeit; einige Knochensplitter, welche ebenfalls die Sonde verrathen hatte, wurden mit derselben Geschicklichkeit glücklich herausgezogen und entfernt. Zugleich fand eine nicht allzubedeutende Entleerung von Eiter und schwarzem halbgeronnenem Blute statt, worauf die Wunde wieder vorsichtig geschlossen und mit dem vorgeschriebenen Verbande bedeckt und geschützt wurde.
Gleich nach der Operation wurde der Kranke in sein Bett zurückgebracht und ihm ein Löffel Wein eingeflößt. Sichtlich zeigte sich bei ihm, trotzdem er sehr erschöpft war, das Wiedererwachen des Bewußtseins; auch schien die Empfindung zurückgekehrt zu sein, da er von Zeit zu Zeit einen tiefen, schmerzlichen Seufzer ausstieß und mit seiner linken Hand nach dem Kopfe griff, um den wahrscheinlich ihm lästigen Verband zu entfernen. Trotzdem hatte der Geheimrath wenig oder gar keine Hoffnung, da das Leiden schon zu lange Zeit gedauert hatte und in Folge des neuen Eingriffs heftiges Wundfieber und drohende Gehirnentzündung zu befürchten standen. Auf Bitten der bekümmerten Mutter blieb
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_211.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)