verschiedene: Die Gartenlaube (1866) | |
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daran erinnern, wie unendlich schwer es für den Fremden ist, in einer Stadt wie London eine sichere und geachtete Existenz zu gründen, und welche beinahe unübersteigliche Hindernisse das rastlose Leben und Treiben und die gewaltigen Entfernungen der Metropole der Vereinigung einer größeren Anzahl von Landsleuten zu gemeinsamen Zwecken in den Weg stellen. Trotzdem war es Kinkel während seines Aufenthaltes in England gelungen, nach beiden Seiten unter der deutschen Emigration ohne Frage die erste Stelle zu erobern und zu behaupten. Als flüchtiger Verbannter, der englischen Sprache unkundig, beinahe mittellos, kam er vor sechszehn Jahren mit seiner Familie in London an und mitten in dem Gewühl der Hauptstadt ergriff ihn sofort der Strudel jener gährenden politischen Kreise, die noch Jahre lang ihre Kräfte in fruchtlosen Plänen zur Erneuerung der gescheiterten festländischen Revolution vergeudeten. Diesen Kreisen kehrte er, unbekümmert um die daraus erwachsende gehässige Nachrede, bald den Rücken. Er sah die Erfüllung der nächsten Pflichten gegen seine Familie, die Gewinnung eines festen Bodens der Heimath in der Fremde vor sich und männlich entschlossen ging er ohne Verzug an die schwere Aufgabe. Wie erfolgreich er sie löste, wie er als Lehrer und Examinator der deutschen Sprache und Literatur, der Geographie und der Kunstgeschichte in Privat- und öffentlichen Anstalten, in literarischen und philosophischen Instituten, nicht blos in London, sondern in allen Hauptstädten Englands Ansehen und Freunde erwarb; wie er durch unermüdete Arbeit sich eine schöne Häuslichkeit gründete und die Mittel zur Erziehung seiner Kinder eroberte, ist auch im Vaterlande bekannt, obgleich nur Kinkel’s persönliche Freunde seinen eisernen Fleiß und die wahrhaft herculischen Mühen seiner Arbeit nach ihrem wahren Werthe zu würdigen im Stande waren. Erst während der letzten Jahre gelang es ihm, das Uebermaß dieser Arbeit abzustreifen und sich vorzugsweise auf die ihm am meisten zusagenden und am besten remunerirten Vorlesungen zu beschränken. Doch auch im rastlosen Gedränge der Beschäftigung verlor er selten die gute Laune und selten fehlte ihm, wenn es darauf ankam, das freundliche Wort der Ermuthigung, das laute helle Lachen geselliger Heiterkeit.
Während Kinkel mit der ihm eigenen Biegsamkeit und Gewandtheit die gegebenen Verhältnisse ergriff und sich in den englischen Zuständen so vollkommen heimisch machte, wie dies ohne Einbüßung seiner besseren Natur möglich war, verlor er zugleich die lebendige Beziehung zu den weiteren Kreisen seiner in London angesiedelten deutschen Landsleute nie aus den Augen. Schon um die Mitte der fünfziger Jahre hielt er unentgeltlich politische Vorlesungen in den Londoner deutschen Arbeitervereinen. Später versammelte er von Jahr zu Jahr ein den höheren Ständen angehörendes gemischtes Publicum zu seinen Cursen über neuere deutsche Literatur in Islington und Camberwell. Der „Hermann“, die einzige deutsche Zeitschrift in London, die sich einiger Dauer und einiges Einflusses rühmen könnte, verdankt ihm ihre Entstehung. Die Leitung des Londoner Nationalvereins war mehrere Jahre in seinen Händen und wenn es galt, so fehlte ihm nie die Muße, das frische Leben der deutschen Turnhalle bei festlichen Gelegenheiten durch seine Vorträge zu veredeln und anzuregen. Sein letztes Werk endlich war die Gründung der „Londoner deutschen Gesellschaft für Wissenschaft und Kunst“, eines Vereines, welcher die tüchtigsten deutschen Gelehrten, Künstler und Kaufleute einmal monatlich zu Vorlesungen und Discussionen versammelt und von dem Kinkel zwei Jahre hindurch einstimmig zum Präsidenten ernannt wurde. So hatte er denn bis in die jüngste Zeit nach allen Richtungen leitend und fördernd an der Entwicklung des deutschen Lebens in London Theil genommen und als die Nachricht sich verbreitete, daß der Ruf nach Zürich von ihm angenommen sei, gab es kaum einen deutsch-londoner Kreis, der nicht mit Bedauern von einem Ereigniß hörte, welches Kinkel aus seiner Mitte entfernen sollte.
Von den innerhalb dieser Kreise stattgehabten Abschiedsfeierlichkeiten will ich nicht reden. Wenn es noch eines Beweises für jene Gefühle der Freundschaft und Anerkennung bedurfte, so lieferte denselben das vorgestern Abend von der gesammten deutschen Colonie Londons veranstaltete Fest der „Kinkel-Feier“. Ein Comité zur Vorbereitung einer solchen Feier hatte sich, bald nachdem Kinkel’s Berufung nach Zürich bekannt wurde, unter dem Vorsitz des bekannten Ingenieur Siemens und Professor Goldstücker’s (von der Londoner Universität) gebildet. Man hatte beschlossen, Kinkel nach englischer Sitte ein substantielles Zeugniß des Andenkens darzubringen und dasselbe bei einem Festmahle zu überreichen. Für das beabsichtigte Geschenk wurden Unterschriften gesammelt und nahezu zweihundert Pfund Sterling gelangten in kurzer Zeit in die Hände des Comités. Eine prächtige Silbervase mit auf die Feier bezüglichen Reliefs und Inschriften, nebst einem großen Kasten voll Silberzeug, Beides von ebenso geschmackvoller wie reicher Arbeit, wurden ausgewählt. Das Festmahl war für den Abend des 27. September angesetzt. Auch englische Freunde hatten sich dazu gemeldet und etwa vierhundert Theilnehmer, Männer und Frauen, fanden sich von Abends acht Uhr an in dem Festlocal, dem großen Saale des Whittington-Club im Strand, ein. In der Mitte der einen Längenwand des hell erleuchteten Saales, von dem Hintergrunde einer rothbehangenen, mit Lorbeergewinden geschmückten Nische, glänzte die von unserm Landsmann Groß vortrefflich ausgeführte Marmorbüste des Ehrengastes. Auf der Tribüne über dem Eingang war die Musik stationirt; an der der Tribüne gegenüberstehenden Quertafel am andern Ende des Saales befanden sich der verdeckte Tisch mit den Geschenken und die für Kinkel und seine Familie reservirten Plätze.
Es war neun Uhr geworden, als die Flügelthüren sich öffneten und die Festprocession unter den Weisen des Siegesmarsches See, the conquering hero comes (Sieh, der Held und Sieger kommt) ihren Einzug hielt. Voran schritten Kinkel’s Kinder: Gottfried Kinkel Sohn, Adele und Hermann Kinkel, dann am Arme des Vorsitzenden, Herrn Siemens, Frau Kinkel, zuletzt Kinkel selbst. Ein lauter Beifallssturm begrüßte ihn, als er eintrat, und rauschte fort, bis er, sich nach allen Seiten verbeugend, seinen Platz am andern Ende des Saales erreicht hatte. Ich hatte ihn vor etwa zwei Monaten zuletzt gesehen und mir wollte es scheinen, als seien ihm seitdem Haar und Bart noch völliger gebleicht; aber die hohe Gestalt, die ungezwungen freie Haltung, der große, beinahe noch jugendlich schöne Kopf mit dem männlich offenen Ausdruck und den glänzenden, dunkeln Augen waren unverändert dieselben, wie ich sie so lange gekannt hatte. Eine Erscheinung wie diese müßte in jeder Versammlung auffallen, und indem Kinkel, von allen Augen gefolgt, unter lebhaftem Beifall den Saal durchschritt, schien es eben nur natürlich, daß er und kein Anderer der gefeierte Gast war.
Nachdem das reichbesetzte Festmahl vorüber und der Nachtisch aufgetragen war, erhob sich der Präsident und gebot Ruhe. Der erste Toast sollte ausgebracht werden – ein Toast auf das deutsche Vaterland. Der hierzu ausersehene Redner war Dr. Heß, ein Mitglied des Comités. Ich will an dieser Stelle im Allgemeinen bemerken, daß Seitens des Comités nach Art englischer Meetings eine Reihe officieller Toaste angeordnet war und daß diese Toaste, durch den Präsidenten verkündet, verabredetermaßen in kurzen Zwischenräumen einander folgten. Daß bei dem Toaste auf Deutschland vor Allem die durch den jüngsten Krieg bewirkte Revolution hervorgehoben wurde, bedarf keiner Bemerkung. Den lebhaftesten Applaus erntete eine Stelle zum Lobe der großen Thatsache, daß in Folge jener Ereignisse Deutschlands Schicksal mehr denn je in seine eigene Hand gelegt sei, daß fortan von einer Einmischung fremder Mächte in die deutschen Angelegenheiten keine Rede mehr sein könne.
Der Haupttoast des Abends war natürlich der Toast auf den Ehrengast Gottfried Kinkel selbst. Diesen Haupttoast auszubringen, war die Sache des Präsidenten Herrn Siemens, und er entledigte sich seiner Aufgabe mit so viel Geist und Tact, und was kaum minder wichtig, mit einer so volltönenden, weithin reichenden Stimme, daß seine Rede den einstimmigsten Beifall hervorrief und die festliche Stimmung auf das Glücklichste erhöhte. Im Einzelnen auf Herrn Siemens’ Rede einzugehen, würde hier zu weit führen. Es genügt, zu constatiren, daß sie den Versammelten die Lebensgeschichte Kinkel’s, seine Wirksamkeit in Bonn, seine politische Laufbahn, seine Gefangenschaft, seine Befreiung und endlich die Ereignisse der englischen Periode in großen Zügen vorführte und mit der Enthüllung und Ueberreichung der oben erwähnten Geschenke zu allgemeiner Befriedigung schloß. Kinkel erhob sich dankend, die Gläser wurden neu gefüllt, die Musik fiel mit lautem Tusch ein und ein dreifach donnerndes Hoch und der von Hunderten von Stimmen aufgenommene festliche Schlußgesang des „Hoch soll er leben!“ hallte durch den Saal wieder. Schon
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_646.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)