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Hektor Haarkötter: „Notizzettel“ – Für sich selbst schreiben

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Notizen können, müssen aber nicht nützlich sein: Studien für eine Luftschraube und Flugmaschinen vom frühsten der großen Notierer, Leonardo da Vinci.
Notizen können, müssen aber nicht nützlich sein: Studien für eine Luftschraube und Flugmaschinen vom frühsten der großen Notierer, Leonardo da Vinci. © akg-images / Erich Lessing

Hier bin ich, murmelt das Notat alleine jener Person zu, die es niedergeschrieben hat: Zu Hektor Haarkötters Erforschung des Notizzettels.

Hektor Haarkötters große Studie über den Notizzettel ist ein Buch, das man auf verschiedene Weise lesen kann. Zunächst als die erste Kulturgeschichte des Notierens, von den Anfängen bis in die digitale Gegenwart. Dann als Fortsetzungsgeschichte der Praktiken großer Notierer wie Leonardo da Vinci, Georg Christoph Lichtenberg oder Ludwig Wittgenstein. Schließlich aber auch als Analyse besonderer Denkfiguren, die sich in nur scheinbar harmlos und flüchtig wirkenden Notaten abzeichnen. Solche bisher wenig gedeuteten Zeichen sind es wert, genauer erforscht zu werden, nähert man sich dabei doch Konstellationen von Kreativität, die etwas ungeahnt Eigenes haben und uns mit sehr besonderen Techniken des Schreibens vertraut machen.

Als Professor für Kommunikationswissenschaft an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg mustert Haarkötter in seinen einleitenden Kapiteln den Notizzettel als kommunikative Form. Wie kommuniziert ein Notat? Und mit wem? Erstaunt stellt der Wissenschaftler fest, dass der Notizzettel ein fast autistisches Medium ist. Wir notieren vor allem für uns selbst, indem wir einen Einfall oder einen Gedanken festhalten.

Das Notat wendet sich also zunächst an niemanden „da draußen“, sondern an das Drinnen des Schreibers selbst. Hier bin ich, murmelt das Notat, Du hast mich in die Welt geworfen, jetzt mach weiter, fang etwas mit mir an!

Haarkötters Erstaunen wird aber noch größer, wenn er zugeben muss, dass wir notieren, um das Notierte abzulegen und zu vergessen und damit zum nächsten Einfall oder Gedanken überzugehen. Das Notat ist also eine meist versteckt bleibende, erregte Form des Schreibens, das nach Fortsetzung verlangt.

Genau dieses Verlangen war und ist so heftig, dass es nie gestillt werden kann. Wer notiert, schreibt ohne geplanten Anfang und ohne Ende. Und das „Werk“, das dabei entsteht, verweigert sich auf empörende Weise den uns vertrauten Werkkategorien. Es nimmt nirgends Gestalt an, sondern erscheint wie ein Strom oder Fluss, den keine Schleusen fassen und lenken.

Die vielen Blätter und Zettel, auf denen ununterbrochen notiert wird, wollen nämlich weder geordnet noch gegliedert werden. Sie wehren sich gegen den Abschluss, das fertige Werk und dessen Anspruch auf zeitübergreifende Gültigkeit. Als störrische Lebewesen türmen sie sich übereinander und erscheinen als aufdringlicher, ungeordneter Haufen. Was tun? Ablegen? In einen Karton werfen? Vernichten? Wir können sie künstlich kanalisieren, dann überführen wir sie in ein Notizbuch oder Notizheft, das wir typischerweise laufend mit uns herumtragen.

Leonardo, der frühste Meister des ewigen Notierens, trug ein solches Buch immer am Gürtel und notierte auf über zehntausend hinterlassenen Blättern, Zetteln oder Schnipseln alles, was er während eines Tages beobachtete: von den Kleidungen, Bewegungen und Sprachen der Menschen in den großen Städten bis zu Kochrezepten, Einkaufszetteln oder Ideen für nützliche Geräte des täglichen Gebrauchs. Sein auf Universalität angelegtes Schreiben nimmt, so isoliert die einzelnen Notate auch erscheinen, dabei durchaus Witterung auf für längere Texte, Pläne oder Projekte. Die meisten werden jedoch nicht verwirklicht, da die Notatflut ein solches Verweilen und den Blick auf eine Ausarbeitung des Gedachten nicht zulässt. Sie will sich vermehren und keineswegs angehalten und zu Projekten getrimmt werden.

Das Buch

Hektor Haarkötter: Notizzettel. Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 592 S., 28 Euro.

Tritt ein passionierter Notierer jedoch manchmal, von den notierten Mengen erschöpft oder überbeansprucht, einen Schritt zurück, steht er vor dem Problem, sich zumindest kurzfristig einen Überblick verschaffen zu müssen. Die vielen Zettel können zum Beispiel in Kästen oder Gehäuse gesperrt und in klug konzipierten Ordnungssystemen aufgefangen werden. Der Zettelkasten verschafft dann eine halbwegs übersichtliche Reihung von einzelnen Blättern oder Karten, die später auch einzeln weiter zu Hand sind. Im Ernst?! Sollen wir sie nach einer so gezielten Einordnung wirklich wieder freilassen?

Viele große Notierer haben es gewagt und Verfahren der Bändigung des notierten Chaos entworfen. So etwa der Soziologe und Philosoph Niklas Luhmann, der seine Exzerpte auf Zettel im Oktavformat schrieb und jeden Zettel mit einer Nummer versah, die seine Ablage in bestimmten Fächern anordnete.

Luhmann kommunizierte mit seinen Zettelkästen und entnahm ihnen jene Zitate, Gedanken und Überlegungen, die dann jeweils zu einem Buch zusammengestellt wurden. Das dem Verlag vorgelegte Typoskript entstand mit Hilfe von handschriftlichen Notaten, die bewegt, gesteuert und in Gedankenbahnen gelenkt wurden. Die Lesemaschine der Zettel und Kästen arbeitete für Luhmann und ließ in kurzen Abständen ein „Werk“ nach dem andern entstehen.

Ein solches Verfahren hat der Schriftsteller Arno Schmidt auf längere Erzählwerke übertragen. Sie entstanden durch eine Kombination von Zetteln, die anerzählte Fantasie- oder Gedankeninseln aufbewahrten und mit dem übergeordneten Blick auf ein Erzählgeschehen verbunden wurden. Notate und Notizzettel spielen bei der Entstehung von breitangelegten Romanen generell eine bedeutende Rolle. Sie fixieren in einer schriftstellerischen Romanwerkstatt, an Zimmerwänden postiert oder in Skizzenbüchern mit Zeichnungen und Fotografien verbunden, die einzelnen Schritte der Ausarbeitung eines sich allmählich herausbildenden Erzählzusammenhangs. Untersucht man die Verzweigungen seiner Impulse, kann man sie, forschend und nachvollziehend, als starke Beweisstücke für avancierte Kreativitätstheorien lesen.

Andere Notierer wie etwa der Philosoph Ludwig Wittgenstein haben die in Notizbüchern notierten Einfälle mit der Schere wieder in einzelne Elemente zerlegt und diese Elemente immer aufs Neue zusammengesetzt oder zusammengeklebt. So gaben sie der Macht des einzelnen Einfalls oder Gedankens nach und erlaubten ihm eine prinzipiell nie abgeschlossene Weiterbewegung. Damit war die extremste Form des großen Notierens geboren: das fortgesetzte Experiment einer avantgardistischen Unruhe, das die Notate nicht sterben lässt, sondern in laufend neuen Konstellationen in Bewegung hält.

Hektor Haarkötter präsentiert in seiner Studie viele solcher Enthusiasten der explosiven oder auch meditativen Kunst, das Fragment eines Zettels so zu platzieren, dass es weitere Fragmente anzieht und sich bis ins erhoffte Unendliche vervielfacht. Sein Buch ist daher weit mehr als eine kulturhistorische Wanderung durch die Geschichte des Notierens. Indem er die einzelnen Quellen und Beispiele aufmerksam und nachdenklich analysiert, geht er Spuren und Wegen des inneren Assoziierens, Begreifens und Denkens nach und nähert sich den sonst meist im Dunkeln bleibenden Szenen des kreativen Erlebens und Gestaltens.

So gelesen ist „Notizzettel“ in der Tat, wie der Untertitel verheißt, ein Buch über „Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert“, das uns in seinen theoriegesättigten Kapiteln immer aufs Neue mit der zentralen Frage danach konfrontiert, was wir eigentlich tun, wenn wir notieren und skizzieren. Im digitalen Zeitalter feiern diese Künste eine erstaunliche Auferstehung, denn in der alten, handschriftlichen Form behaupten sie sich massiv gegenüber allen Zumutungen der Versendung. „Das Internet ist kein privates Medium“, resümiert Haarkötter und reißt damit noch ein letztes Mal den Vorhang auf für das intime und private Notieren, das ganz bei sich bleiben und nirgends hingesendet werden will.

Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil notiert täglich seit seinem achten Lebensjahr. Vor kurzem ist er siebzig Jahre alt geworden. Seine nicht mehr zählbaren Notate wurden inzwischen in eigens dafür gebauten Archivräumen untergebracht.

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