Michajlo Kozjubynskyj - Lebenslänglich
Eine kleine Ukraine-Bibliothek (23): Der Erzähler Michajlo Kozjubynskyj, dessen Bücher in finstere, dann wetterleuchtende, dann gewittrige Zeiten um die Wende zum 20. Jahrhundert führen.
Ein roter Abendhimmel, unnatürlich rot, ein lodernder Horizont, erste Anzeichen einer aufziehenden Zeitenwende. Zweimal schrieb Michajlo Kozjubynskyj an seinem Roman „Fata Morgana“, der erste Teil wurde zwei Jahre vor den Revolten von 1905 beendet, der zweite fünf Jahre später. Darin wurde die Flammenschrift von den Bauern erregt begrüßt, von den Besitzenden als Fanal bestürzt wahrgenommen. Doch es blieb nicht bei diesen beiden Perspektiven – der Himmel selbst wurde zum Sprechen gebracht. Ebenso wie der Wind, der alle Sinne ansprach, „immerzu Brandgeruch“ mitführte, „fernen Glockenklang“, nicht zuletzt „Unruhe“.
Schon 1892, in der frühen, märchenhaften Erzählung „Die Silbermünze“, ein rotgefärbter Himmel, ein letztes Licht, kein Morgenrot, erst recht kein politisch glühendes Sinnbild, aber Hinweis auf ein seitdem wiederkehrendes Motiv im Werk eines Autors, dem man mit gleich mehreren Etiketten versehen hat: Neoromantischer Naturalist, impressionistischer Symbolist. Flirrend, verwirrend. Wer sich auf die Suche nach diesem Schriftsteller begibt, muss im Deutschen mehrere Schreibweisen nutzen, mindestens diese drei: Kozjubynskyj, Kozjubynsky, Kozjubinskij; der Vorname: Michailo, Mychailo, Michajlo.
Geboren 1864, gestorben 1913, verfügte er, während er über die elende Armut der russischen Bauern schrieb und die erst recht erbarmungslose Ausbeutung der ukrainischen, über einen außergewöhnlichen Reichtum an literarischen Möglichkeiten. Es verwundert darum nicht, dass er in Walerjan Pidmohylnyjs Roman „Die Stadt“ zum unerreichten Vorbild erklärt wurde, dass Tanja Maljartschuk und Oleksij Tschupa in ihren Romanen auf ihn verwiesen haben, und auch Juri Andruchowytsch in „Zwölf Ringe“, nicht unheikel.
Hier und da wurde Kozjubynskyj als der „ukrainische Gorki“ bezeichnet – zumal er mit ihm befreundet war. Gegenüber den gesellschaftlichen Gegebenheiten verhielt er sich als Naturalist, sobald er auf die Natur traf, sah er sich herausgefordert als Impressionist. Divers, wie er zu schreiben verstand, verstand er sich auf Synästhesien. Und so wurde denn auch den Katastrophen nicht nur entgegengesehen, sie wurden gerochen, körperlich gespürt.
Seine soziale Stellung als Autor definierte Kozjubynskyj als „Narodnik“. Wen das bildungspolitische Pathos dieser „Volkstümler“ befremdet, sollte sich vergegenwärtigen, dass im Jahr 1897 in der Ukraine 81 Prozent der Männer und 95 Prozent der Frauen nicht lesen und schreiben konnten. Krass das Nichtwissen, gespenstisch der Aberglaube – exemplarisch in „Die Hexe“, in der Wahn ein Mädchen dermaßen bedrängt, so dass es bereit ist, die ihm oktroyierte Rolle anzunehmen. Unterwürfigkeit unter böse Geister ist stärker noch als Gottvertrauen.
Durchweg ein Leben in Angst, von Kindesbeinen an. Am Ende ein Sterben unter unwürdigsten Umständen, so dass in der Erzählung „Aus dem Buch des Lebens“ eine Greisin um nichts anderes als Sterbehilfe fleht. Die Familie möge sie aussetzen, im Wald, im Schnee erfrieren lassen. Die Alte kann nicht sterben – so die eine Lesart, eine schrecklich naturalistische. Das Alte kann nicht sterben – so eine weitere Lesart, die auf den Symbolisten Kozjubynskyj verweist.
Zur Reihe:
Eine kleine Ukraine-Bibliothek, nicht chronologisch angelegt, nicht systematisch zusammengestellt, gedacht als Angebot zur Orientierung. Davon ausgehend, dass sich Schauplätze, ob fern oder fremd, durch Bücher von jedem Ort der Welt aus aufsuchen lassen.
Mychailo Kozjubynsky: Aus dem Buch des Lebens. Erzählungen. Mehrere Übersetzer aus dem Russischen. Auswahl und Nachwort von Eberhard Reißner. Aufbau 1972. 478 S., im Internet etwa 20 Euro.
Michajlo Kozjubynskyj: Fata Morgana und andere Erzählungen. A. d. Ukrain. von Anna-Halja Horbatsch. Manesse 1962. 438 S., im Internet etwa 20 Euro.
Zuletzt ins Regal gestellt: die Bände „Herbstfeuer“ und „Samson und Nadjeschda“ von Andrej Kurkow, Artem Tschechs „Nullpunkt“, Yevgenia Belorusets’ „Glückliche Fälle“ und „Anfang des Krieges“, die Nestorchronik sowie die Ausgabe „Widerstand“ der Zeitschrift „Osteuropa“.
Als nächstes werden ausgewählte Werke von Wladimir Korolenko vorgestellt.
Durchgängig kein Leben. Es ist eine Qual, für die Bauern fast kein Tag ohne Hunger in der Kornkammer Ukraine. Im Winter und Frühling ein Versinken im Morast, im Sommer und Herbst ein Kampf gegen den Staub. Lebenslänglich nackte Not unter der zaristischen Despotie, die Schwerverbrecher aus den Gefängnissen entließ, um sie als „Schwarzhunderter“ auf Oppositionelle loszulassen, in lancierten Pogromen. Die Ukraine bot keine Bleibe. Die Migration strandete in Bessarabien, in den Schilfgefilden von Pruth und Donau. Wenn der Autor einen Ukraine-Flüchtling überleben ließ, hatte er eingegriffen aus Güte.
Meine news
Kozjubynskyjs Figuren der 1890er Jahre neigten zur Resignation. Seit der Jahrhundertwende war in ihnen etwas vorgegangen. Dem Hausherrn wird, während der Mob plündernd durch die Stadt zieht, schroff bewusst, warum der Hohn („Das Gelächter“) der Haushälterin für eine Welt, die sie schändlich ausgenutzt hat, verständlich ist. Selbst dem fünffachen Mörder Lasar, der sich in der bis in entsetzliche Details unnachgiebig erzählten Geschichte „Persona Grata“ als Henker anwerben lässt, selbst dieser durch und durch niederträchtigen Kreatur geht auf, dass sie sich zu einem Instrument missbrauchen lässt, um niederträchtiges Unrecht niederträchtig zu exekutieren.
Gelegentlich blitzt es in beschränkten Köpfen auf, mancher dann wie vom Donner gerührt. Überhaupt eine Gewitterstimmung in den Geschichten. Das gilt auch für den Genossen Kyrill in „Unterwegs“. Untertauchend, erlebt der Gehetzte eine überwältigende Natur: „Er sah den jungen Roggen im blauen Schimmer der Ähren brodeln, er sah, wie seine Wellen gegen den schwarzen Wald anbrandeten. Der Wald aber war auf Wanderschaft.“ Dass neben dem modernen, dem mobilen Wald „die Erde“ patriotisch erfahren wurde – ein neoromantisches Motiv, europaweit ein Sujet. Dennoch, unter den Umständen eines tolstoi-artigen Musterhofs, wo die Langeweile so wohlig genossen wird wie das Lamento, entsagt der Genosse schlagartig seinem Privateigentum an Glück. Der Labile überantwortet ein gestärktes Ich dem kompromisslosen Über-Ich der Partei. „Unterwegs“, zwei Jahre nach der Revolution von 1905 geschrieben, ist so etwas wie die Schlüsselerzählung eines „parteiischen“ Schriftstellers.
Wer von ihm Übersetztes lesen möchte, wird auf fast verschollene Bücher verwiesen, mittlerweile 50, 60 Jahre alt. Jede der Geschichten entwickelt sich unerbittlich. Inmitten unerträglicher Anspannung Menschen in Habachtstellung, auch in „Fata Morgana“, dem Roman, in dem ausgebeutete Dörfler sich bewaffnet erheben, um in ihr Unheil zu laufen. In einer hoffnungslosen Geschichte finden sie ein böses Ende: „In der Morgenfrühe rückten die Milizkosaken ins Dorf ein.“
Die Leibeigenschaft wurde in Russland und damit der Ukraine 1861 abgeschafft. Tatsächlich verfügten die Gutsherren weiterhin über Bauern und Gesinde wie über Eigentum, angefangen mit „den Mädchen“, unter denen der „Admiral im Ruhestand“ im Dorf „mindestens ein Dutzend Kinder“ dem Schicksal überließ. „Die Pferde können nichts dafür“, heißt die Erzählung, in der ein liberaler Gutsherr à la Theodor Fontane oder Eduard von Keyserling den Bauern sein Land abtritt, freiwillig, bei aller Jovialität empört, aber schuldbewusst. Das zeitbedingt Klassenkämpferische in der Geschichte von Gorki beeinflusst, die überzeitliche Tragikomik von Tschechow. Innerhalb dieser vier literarischen Koordinaten finden wir Michajlo Kozjubynskyj vor.
So erbärmlich die russische Realität um 1905, im Interesse des Realismus erlaubte sich dieser Ukrainer den Luxus eines rabenschwarzen Humors: „Die Eisenbahn ruhte, die Arbeiter streikten, überall war es still, beklemmend, öde, und nur die Krähen verbanden durch die schwarze Kette ihrer Flügel das Dorf mit der übrigen Welt. Um sie herum ging etwas vor.“