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Vereint im Schweigen über die Vergangenheit

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Olga Benario 1927 in Berlin.
Olga Benario 1927 in Berlin. © picture-alliance/ obs

Am 23. September 1936 wurde die jüdische Kommunistin Olga Benario aus Rio de Janeiro ausgewiesen – das war ihr Todesurteil.

Nein, dieses Porträt gibt keine Umstürzlerin, keine Revolutionärin, keine Heldin wieder. Vor rabenschwarzem Hintergrund zeigt es eine junge, anmutige Frau in einer zart malvenfarbenen Bluse, und wenn man ihren Augen einen Ausdruck zuschreiben will, dann sicher nicht Entschlossenheit, Zuversicht und Heldenmut, sondern Ungewissheit, Besorgnis, sogar Angst. Die Hände, fast zu groß, liegen, die rechte über der linken, schützend auf ihrem Bauch. Und der Maler hat seinen Namen nicht parallel zum Bildrand unten gesetzt, sondern schräg, der Lage des rechten Armes folgend. So als wollte er die schützende Geste der Hand unterstreichen.

Und so war es wohl auch. Cândido Portinari (1903–1962), bis heute einer der bedeutendsten Maler Brasiliens, fertigte das Porträt vor bald 80 Jahren nach einer Fotografie an. Er kannte die dargestellte Olga Benario-Prestes – der Name glimmt in gelben Großbuchstaben aus dem Schwarz des Hintergrunds hervor – persönlich gar nicht. Portinaris Bildnis, vieltausendfach als Postkarte gedruckt, war Teil einer weltweiten Kampagne, die die Freilassung der Jüdin und Kommunistin aus Hitlers Konzentrationslagern erreichen wollte. Filinto Müller, der gefürchtete Polizeichef von Rio de Janeiro, hatte sie der Gestapo wie auf einem Silbertablett serviert. Und zwar aus eigenem Antrieb. Die deutschen Behörden hatten die Auslieferung gar nicht verlangt.

Die schützenden Hände hat Portinari nicht von ungefähr gemalt. Olga Benario war schwanger. Nach den damaligen Bestimmungen hätte sie, wäre sie in Brasilien niedergekommen, einen brasilianischen Staatsbürger geboren, und darauf fußten die fieberhaften Bemühungen ihres Anwaltes, die Auslieferung nach Deutschland zu verhindern. Am Ende umsonst: Genau vor 80 Jahren, am 23. September 1936, wurde Olga Benario von einem Trupp Soldaten aus dem berüchtigten Frei-Caneca-Gefängnis in Rio de Janeiro abgeholt, in den Hafen transportiert und auf das Schiff „La Coruña“ gesetzt, das, seinem spanischen Namen zum Trotz, unter der Hakenkreuzfahne fuhr. Fünfeinhalb Jahre später, am 23. April 1942, wurde sie in der Gaskammer der Tötungsanstalt Bernburg ermordet.

Heute hängt das Bild in einer nicht eben luxuriösen, etwas altmodisch eingerichteten Wohnung in Botafogo, einem bürgerlichen Stadtteil von Rio de Janeiro. Und seine Besitzerin ist die, auf deren Existenz Portinari mit der schützenden Geste der Hände hinwies: Anita Leocádia Prestes, die Tochter Olga Benarios. Sie kam zwei Monate nach der Auslieferung der Mutter zur Welt, im berüchtigten Frauengefängnis Barnimstraße in Berlin, in dem schon Rosa Luxemburg eingesessen hatte.

Sicher sind alle Zeitgenossen von ihrer Epoche geprägt. Aber in manchen Menschen scheint sich die Geschichte geradezu zu verkörpern, so deutlich bildet sie sich mit allen Hoffnungen und Enttäuschungen, mit aller Dramatik und Tragik in deren Lebensläufen ab. Und die alte Dame vor dem Bild ihrer ermordeten Mutter gehört zu diesen Menschen.

„Politik des Vergessens“

Anita Leocádia Prestes hat in jungen Jahren Chemie studiert. Aber in einer zweiten akademischen Karriere wurde sie Historikerin. Heute ist sie emeritierte Professorin für Zeitgeschichte Brasiliens, und ihre wissenschaftliche Arbeit dreht sich um die historischen Bedingungen ihres eigenen Lebens. Dass Beruf und Berufung ineinander übergehen, daraus macht sie im Interview keinen Hehl: Man müsse der „Politik des Vergessens“ entgegentreten, sagt sie – im „Schweigen“ über die Vergangenheit seien Brasilien und Deutschland vereint.

Ihr Vater Luiz Carlos Prestes (1898–1990) war eine der markantesten Figuren des 20. Jahrhunderts in Brasilien. Als junger Offizier führte er in den Zwanzigern eine Rebellion gegen die ultrakonservative Oligarchenregierung in Rio de Janeiro an. Erfolg war den etwa 1500 Aufständischen zwar nicht beschieden, dafür aber Ruhm. Die „Coluna Prestes“ wich den Regierungstruppen stets geschickt aus, legte im Laufe der Jahre unglaubliche 25.000 Kilometer zurück und begründete so ihre Fama: Sie siegte zwar nie, aber sie wurde auch nie geschlagen.

Im bolivianischen Exil befasste sich Prestes mit dem Marxismus, und so kam es, dass er, der damals schon als „Ritter der Hoffnung“ ein Volksheld war, eine Einladung in die Sowjetunion erhielt, die er 1931, kurioserweise in Begleitung seiner Mutter und seiner vier Schwestern, annahm. Er arbeitete in Moskau als Eisenbahningenieur und studierte Marxismus-Leninismus. Und im Dezember 1934 begann schließlich das kurze Stück des Lebensweges, das er und Olga Benario gemeinsam beschritten: Nicht einmal 15 Monate lang.

Olga, die 1908 geborene Tochter eines sozialdemokratischen Rechtsanwalts aus München, hatte sich schon in jungen Jahren für die Kommunistische Partei entschieden, und auch ihr Ruhm fußte auf einem Husarenstück, wenn auch anderer Art: Zusammen mit sieben Gesinnungsgenossen hatte sie 1928 ihren damaligen Lebensgefährten Otto Braun, der wegen Hochverrats angeklagt war, in einer handstreichartigen Aktion aus dem Kriminalgericht Moabit befreit. In Moskau stieg Benario, die sich von Braun getrennt hatte, in der kommunistischen Jugendorganisation auf. Diszipliniert und talentiert, wurde sie eine überzeugte, gehorsame Parteisoldatin. Und als sie im Dezember 1934 den Auftrag erhielt, mit dem legendären Brasilianer in dessen Heimat zu gehen, um dort die Revolution anzuzetteln, hat sie offenbar keine Sekunde gezögert.

Rua Honório, Stadtteil Méier, Rio de Janeiro. Kleine, alte Bürgerhäuser hinter Mauern, über die Bougainvilleazweige ranken, wechseln sich mit vielstöckigen Mietshäusern ab. Nach Nummer 269 kommt gleich die 281; Rua Honório 279, wo sich Prestes und Benario verkrochen hatten, gibt es heute nicht mehr. Hier, in diesem damals wie heute kleinbürgerlichen Viertel, wurden sie am 5. März 1936 gestellt, und hier sahen sie sich zum letzten Mal. Olga Benario rettete Prestes womöglich das Leben. Als die 30 Soldaten, die ausdrücklich einen Schießbefehl erhalten hatten, das kleine Häuschen während eines nächtlichen Tropenregens stürmten, warf sich Olga Benario dazwischen, als die Häscher auf Prestes losgingen.

Sie waren, ausgestattet mit fast unbegrenzten Geldmitteln, kreuz und quer durch Europa gefahren, um ihre Spuren zu verwischen. Getarnt als frisch verheiratetes, reiches portugiesisches Paar reisten sie, immer erster Klasse, zunächst nach New York, dann über Miami, Chile und Argentinien, bis sie im April 1935 inkognito in Rio de Janeiro ankamen. Und irgendwo auf dieser irrealen Reise verliebten sie sich in einander. Aus Tarnung und Täuschung wurde Wirklichkeit.

In der DDR wurde die Erinnerung an Olga Benario als kommunistisches Opfer der Nazis hochgehalten, während Prestes als Randfigur dargestellt wurde. In Brasilien war es umgekehrt; eine Prestes-Biografie aus der Feder Jorge Amados (1912–2001), eines der bedeutendsten Autoren Brasiliens, erwähnt Olga gerade mit einer halben Seite. Erst 1985 stellte der Journalist Fernando Morais das Leben beider in einer ausführlichen Biografie dar, damals ein Bestseller, der bis heute das Referenzwerk ist.

Und dennoch: Was mit Olga Benario in Brasilien wirklich geschehen ist, bleibt in vielem rätselhaft. War sie wirklich noch die treue Parteisoldatin, oder hat sie die Liebe im betörenden Rio de Janeiro vom Kurs abgebracht? Mit der Frau eines der Gesinnungsgenossen, die Moskau ebenfalls nach Rio geschickt hatten, schien sie sich des bürgerlichen Lebens zu erfreuen, mit Theater- und Konzertbesuchen und den Vergnügungen des Strandes, während immer donnerstags und sonntags bei Ananasbowle über die Revolution diskutiert wurde.

Andererseits äußerte sie Zweifel an Antônio Maciel Bonfim, dem damaligen KP-Chefs Brasiliens, den sie, wie andere auch, als eitles Großmaul empfand und der später alles und alle verraten sollte. Und sie – so schreibt es Morais – stimmte genauso wie Prestes ausdrücklich zu, als die geheime Verschwörerzelle beschloss, die des Verrates verdächtigte Freundin des KP-Chefs zu erwürgen.

Hat sie, die geschulte Marxistin-Leninistin, nicht irgendwann gezweifelt an den politischen Bedingungen ihrer Mission? Brasilien war ein halbfeudales, rückständiges Agrarland ohne klassenbewusstes, revolutionsbereites Proletariat, das der reinen Lehre zufolge die Voraussetzung für einen kommunistischen Umsturz ist. Zwar gab es eine erstaunlich starke bürgerliche Protestbewegung gegen Staatschef Getúlio Vargas, der an der Spitze einer autoritären Entwicklungsdiktatur stand, sich die europäischen faschistischen Regimes zum Vorbild nahm und Hitler als „großer und guter Freund“ anschrieb. Aber Vargas wartete nur auf den Anlass, diese Bewegung zu brechen – zumal sich der Volksheld Prestes in einem angeblich in Europa geschriebenen Brief an ihre Spitze zu stellen suchte.

Zwei Militärrevolten im Norden Brasiliens, die Morais als „eine Mischung aus politischem Aufstand und Karneval“ bezeichnet, bringen Prestes im November 1935 unter Zugzwang. Er will in Rio losschlagen, seinen zögernden Verschwörergenossen gegenüber behauptet er, mächtige Unterstützer im Militär zu haben. Das Unternehmen scheitert, einige der Verschwörer werden verhaftet – und von nun an werden Luiz Carlos Prestes und Olga Benario von der Polizei gejagt. In der Rua Honório 279 liegt die Toilette im Hof; damit die Nachbarn nichts von ihnen merken, benutzen sie sie nur im Schutze der Dunkelheit.

Ein persönlicher Racheakt

Die Worte „gültig für drei Monate“ sind durchgestrichen und durch „aus dem nationalen Territorium ausgewiesen“ ersetzt, so steht es, unterschrieben mit „F. Müller, Chef der Polizei“ auf dem Visum für Olga Benario, das in Wahrheit ein Todesurteil war. Und „das war ein persönlicher Racheakt“, sagt die Tochter heute.

Filinto Müller hatte über ein Jahrzehnt vorher in der Coluna Prestes mitgekämpft, war jedoch mit Schimpf und Schande ausgeschlossen worden, weil er sich unter Mitnahme von Geld und Waffen nach Argentinien abgesetzt hatte. Und dass Müller nur das willenlose Werkzeug von Präsident Vargas war, sei genauso wenig richtig wie die These der Verteidiger Vargas’ – an denen es bis heute in Brasilien nicht fehlt –, Müller habe ohne Wissen und Zustimmung des Staatschefs gehandelt, unterstreicht Anita Leocádia Prestes.

„Seit Anita fort ist, sind die Tage endlos lang“, schrieb Olga Benario am 12. Februar 1938 ihrem „Karli“. Die Kampagne, die Prestes’ Mutter von Paris aus zur Freilassung ihrer Schwiegertochter organisiert hatte, führte zur Rettung der Enkelin, die mit der Großmutter und ihren Tanten nach Mexiko gehen konnte. Prestes, der nach seiner Festnahme neun Jahre im Gefängnis verbringt, und Benario tauschen bis zu ihrer Ermordung 1942 Briefe aus. Sie sind alle zensiert, schon deswegen enthalten sie kein Wort über Politik. Aber womöglich ist das Private einfach wichtiger geworden: „Nun, die Kleine sagt Dir „ai-dai-dai“ ins Ohr u. ich küsse Dich von ganzem Herzen. Deine Olga“, endet ihr Brief vom 24. September 1937.

Das Vargas-Regime schließt sich 1942 den Alliierten an, und gleich nach dem Krieg kommt es zu einer Liberalisierung: Die KP wird zugelassen, der freigelassene Prestes wird in den Senat gewählt. Er unterstützt – kaum zu glauben – ausgerechnet Vargas, der ja nun Nazigegner geworden war. Und im Senat stieß Prestes auf einen alten Bekannten: Filinto Müller, der in einer Rechtspartei das Sagen hatte. Und der, während die von 1964 bis 1985 herrschende Militärdiktatur Prestes ins Exil nach Moskau zwang, bis zu seinem Tod 1973 eine führende Figur der brasilianischen Rechten blieb.

Als 1960 die neue Hauptstadt Brasília eingeweiht wurde, war die Bundesrepublik Deutschland durch eine Parlamentarierdelegation vertreten, die Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier anführte: der konservative Schwabe hatte dem Kreis der Hitler-Attentäter angehört und war nur knapp der Hinrichtung entgangen. Wie bei solchen protokollarischen Anlässen üblich, vereinbarten beide Seiten, Orden auszutauschen, und so dekorierte Gerstenmaier den – ihm hierarchisch gleichgestellten – Senatspräsidenten João Goulart mit dem Großkreuz, der zweithöchsten Kategorie des Bundesverdienstkreuzes. Dessen Stellvertreter erhielt das große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband, die dritthöchste Stufe, aber Gerstenmaier blieb es immerhin erspart, es dem Geehrten persönlich umzuhängen: Senatsvizepräsident Filinto Müller.

Hatte der damalige deutsche Botschafter  in Brasilien, Herbert Dittmann, ein alter Nazi, den Bundestagspräsidenten ins Messer laufen lassen? Vermutlich nicht. Es war wohl eher so, wie Anita Leocádia Prestes sagt: Im Schweigen über die Vergangenheit waren Brasilien und Deutschland vereint. Der Verdienstorden der Bundesrepublik wurde 1951 gestiftet. Und der erste Träger der höchsten Kategorie, der sogenannten Sonderstufe des Großkreuzes, war Getúlio Vargas.

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