Physik

Mysteriöse Diskrepanzen

Myonen rütteln an den Grundlagen der Physik

Myonen sind nicht nur als Durchleuchtungshelfer nützlich, sie bieten uns auch einen Einblick in die Welt der kleinsten Teilchen und der Grundkräfte der Physik. Denn viele exotische Teilchen, darunter auch das berühmte Higgs-Boson – zerfallen in Myonen, so dass diese zu Boten ihrer noch kurzlebigeren Vorgänger werden. Mithilfe von Myonen haben Physiker aber auch einen der Grundbausteine aller Materie vermessen – das Proton.

Proton
Myonen haben dabei geholfen, den Radius des Protons näher zu bestimmen – eines Grundbausteins aller Materie. © Jacek rybak/ CC-by-sa 4.0

Myonen messen den Protonenradius

Das Myon ist zwar schwerer als ein Elektron, gleicht diesem aber ansonsten in fast allen Merkmalen. Deshalb kann es sogar seinen Platz im Atom einnehmen – beispielsweise im Wasserstoff. In diesem kreist dann ein Myon statt des Elektrons um das Proton im Kern. Wegen seiner größeren Masse bewegt sich das Myon dabei näher am Atomkern und benötigt mehr Energie, um angeregt zu werden. Genau das nutzen Teilchenphysiker, um den Radius des Protons zu vermessen – eine für mehrere Naturkonstanten wichtige Größe.

„Weil das Myon 200-mal schwerer ist als das Elektron, kommt es dem Proton viel näher und ‚spürt‘ buchstäblich dessen Ausdehnung“, erklärt Randolf Pohl von der Universität Mainz. „Daraus ergibt sich die hohe Präzision, mit der wir den Protonenradius bestimmen können.“ Konkret geschieht dies mittels Laserspektroskopie: Dem myonischen Wasserstoff wird mittels Laserpulsen exakt so viel Energie zugeführt, dass das Myon in einen höheren Energiezustand angehoben wird, Fällt es dann wieder in den Grundzustand zurück, gibt es die überschüssige Energie in Form von Röntgenphotonen ab. Deren Merkmale geben Aufschluss über den Abstand des Myons zum Atomkern – und damit auch über den Radius des Protons.

Rätselhafte Diskrepanzen

Das Spannende daran: Sowohl der myonische Wasserstoff als auch andere Messverfahren haben in den letzten 14 Jahren erhebliche Diskrepanzen zum offiziellen Referenzwert von 0,8768 Femtometer aufgedeckt – der gemessenen Protonenradius lag deutlich darunter. Gleichzeitig belegen Messungen mit normalem Wasserstoff, dass diese Abweichungen nicht mit dem Myon als Messhelfer zusammenhängen können. Inzwischen hat das Committee on Data for Science and Technology (CODATA) reagiert und den Referenzwert für den Protonenradius nach unten korrigiert. Sie empfiehlt nun die Nutzung von 0,841 Femtometer als Richtwert.

Quarks im Proton
Neben den drei „Hauptquarks“ gibt es im Proton noch kurzlebige Paare aus weiteren Quarks und ihren Antiquarks. © Los Alamos National Laboratory

Sogar Einblicke in das Innere der Protonen haben Physiker dank der Myonen erhalten. Denn wenn Protonen kollidieren, löschen sich die in ihrem Inneren präsenten Quarks und Antiquarks gegenseitig aus, dabei werden auch Myonen frei. An ihnen lässt sich ablesen, wie viele Antiquarks die Protonen enthalten haben. Dem gängigen Modell nach müssten dabei zwei Sorten – Anti-Up und Anti-Down-Quarks – zu gleichen Teilen vertreten sein.

Doch das ist offenbar nicht der Fall, wie Physiker im Jahr 2021 festgestellt haben. „Aus der Myon-Paarproduktion ergibt sich, dass mehr Anti-Down-Quarks im Kernbaustein entstehen als Anti-Up-Quarks“, berichtet das Team um Jason Dove von der University of Illinois in Urbana-Champaign. Warum es diese Asymmetrie gibt und wie sie entsteht, ist jedoch noch völlig ungeklärt.

Das Myon und sein g-Faktor

Doch auch die Myonen selbst geben Physikern Rätsel auf. Denn sie verhalten sich im Magnetfeld nicht so, wie sie es dem Standardmodell nach sollten. Der Theorie zufolge bringen solche Felder das magnetische Moment des Myons auf bestimmte Weise zum Taumeln. Das Ausmaß dieser Präzession – auch als g-Faktor bezeichnet – wird von Ladung, Masse und Spin des Myons beeinflusst. Gäbe es keine weiteren äußeren Einflüsse, müsste dieser g-Faktor gleich 2 sein.

Allerdings ist das Myon bei seinem Flug nicht ungestört: Durch Quantenfluktuationen tauchen in seinem Umfeld ständig virtuelle Teilchenpaare quasi aus dem Nichts auf und verschwinden wieder. Wie subatomare „Tanzpartner“ beeinflussen diese virtuellen Teilchen das Myon und sein magnetisches Moment – wie stark, kann man ebenfalls mithilfe des Standardmodells errechnen. Demnach müsste der g-Faktor des Myons um etwa 0,1 Prozent von 2 abweichen – sofern die Theorien stimmen und vollständig sind.

Muon-g-2-Experiment
Blick auf den Beschleunigerring des Muon-g-2-Experiments am Fermilab. © Los Alamos National Laboratory

Mysteriöse Abweichungen auch hier

Doch das scheint nicht der Fall zu sein, wie das Muon-g-2-Experiment am Fermi National Accelerator Laboratory in den USA ergeben hat. Dort wird ein Myonenstrahl in einem gut 14 Meter großen Beschleunigerring bis fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und dabei wechselnden Magnetfeldern ausgesetzt. Schon zweimal – 2021 und 2023 – haben Physiker damit einen Wert für den g-Faktor des Myons ermittelt, der signifikant von den Vorhersagen des Standardmodells abweicht.

Nach Ansicht der Physiker könnte ein Indiz für „neue Physik“ sein – für Teilchen oder Kräfte, die im aktuellen Standardmodell der Physik noch nicht erfasst sind. Deren Interaktion mit dem Myon würde erklären, warum es sich im Magnetfeld anders verhält als es sollte. „Aus vielen Gründen sind wir sicher, dass unser derzeitiges Verständnis der Physik unvollständig ist. Es könnten zusätzliche Teilchen oder verborgene subatomare Kräfte existieren“, sagt Dominik Stöckinger von der Universität Mainz.

Die neuen Ergebnisse des Muon-g-2-Experiments.© Fermilab

Auf dem Weg zum Myonen-Beschleuniger

Myonen haben damit gleich mehrere Diskrepanzen in fundamentalen Aspekten der Teilchenphysik aufgedeckt. Physiker gehen jedoch davon aus, dass es noch mehr solcher Abweichungen und Überraschungen geben könnte – wenn man nur weiter nach ihnen sucht. Und auch dabei könnten Myonen eine entscheidende Rolle spielen: in einem Myonen-Beschleuniger. „Ein Myonen-Collider könnte Multi-Teraelektronenvolt-Energien und präzise zentrierte Kollisionen ermöglichen, käme aber mit weit kleineren Anlagen aus“, erklärt Paul Bogdan Jurj von der MICE-Kollaboration (Muon Ionization Cooling Experiment).

So könnte ein Myonen-Beschleuniger im 27-Kilometer-Ring des Large Hadron Colliders (LHC) genauso hohe Kollisionsenergien erreichen wie Protonen in einem 100-Kilometer-Ring. Der Grund: Myonen sind anders als Protonen keine zusammengesetzten Teilchen, daher verpufft bei ihrem Zusammenprall kaum Energie. Gleichzeitig sind Myonen aber schwer genug, um beim Beschleunigen nicht ständig Energie durch Synchrotronstrahlung zu verlieren. Beides macht sie daher ideal für Teilchenstudien bei hohen Energien – eigentlich.

Der Haken jedoch: Weil Myonen so kurzlebig sind, müssen sie im Beschleuniger selbst, quasi „on the fly“, erzeugt werden. Das erschwert es aber, die Myonen zu einem fokussierten, homogenen Strahl zu formen. Physiker am Forschungszentrum CERN und anderswo arbeiten aber bereits daran, diese Hürden zu überwinden. Erste vielversprechende Ergebnisse gab es 2024 bereits. Die Zukunft könnte demnach spannend werden.

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Myonen - Fenster ins Verborgene
Was die schweren "Brüder" des Elektrons über unsere Welt verraten

Was sind Myonen?
Strahlung, Einstein und die Zeitdehnung

Mehr Durchblick mit kosmischen Teilchen
Myonen durchleuchten Vulkane, Tunnel und Co

Streuung statt Absorption
Die Myonen-Tomografie und ihre Einsatzzwecke

Pyramiden, Gräber und noch mehr
Myonen-Bildgebung in der Archäologie

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