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Einberufen

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Textdaten
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Autor: E. A. K.
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Titel: Einberufen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 405–409
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Scenen und Bilder aus dem Feld- und Lagerleben Nr. 1
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[405]

Die Landwehr am Düsselgraben in Düsseldorf.
Nach der Natur aufgenommen von A. Nikutowski.

[406]
Scenen und Bilder aus Feld- und Lagerleben.
1. Einberufen.


„Der Wehrmann ersten Aufgebots, Peter Schmitz, wird hiermit in seine Heimath beurlaubt und hat sich so einzurichten, daß er am Montag den 14. Mai Morgens zehn Uhr unfehlbar auf dem Exercirplatze in Düsseldorf eintrifft, widrigenfalls“ etc.

„Himmel …!“ rief der Materialwaaren-Handlungsgehülfe, während er die Einberufungs-Ordre, die der wohlbeleibte Polizeisergeant ihm überreicht hatte, mit einer Gebehrde des Unmuths auf den Ladentisch warf. „Seit fünf Jahren habe ich den Kuhfuß nicht mehr getragen und nun in dem Augenblick, in welchem ich im Begriff stehe, ein eigenes Geschäft zu gründen und die Braut heimzuführen –“

„Still gestanden! Nicht raisonnirt!“ gebot der Hausknecht, der in diesem Augenblick in den Laden trat. „Glauben Sie vielleicht, Sie seien der Einzige, für welchen der Generalmarsch geschlagen wird?“

Ein Lächeln bittern Hohns glitt über das blasse Antlitz des hageren Jünglings, durch dessen Rechnung Gott Mars so grausam einen Strich gezogen hatte. „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen,“ erwiderte er, „der Spott ist billig.“

„Erlauben Sie, ich werde Sie am 14. Mai begleiten und getreu bei Ihnen ausharren, bis wir mitsammen heimkehren dürfen,“ fiel der Hausknecht ihm in’s Wort, während er ihm einen Zettel überreichte.

Peter Schmitz blickte erstaunt auf. „Der Landwehr-Unterofficier Jakob Schulz wird hiermit – – – ah, Sie sind Unterofficier? Das hatte ich noch nicht gewußt.“

„Na, Sie werden es nun nicht mehr bezweifeln können! Das Blatt hat sich gewendet, heute können Sie mir noch befehlen, am Montag dagegen werde ich Ihnen zeigen, wo Barthel den Most holt!“ setzte er gutmüthig lächelnd hinzu.

Peter Schmitz, ließ wehmüthig das blonde Haupt sinken, er legte die Feder, die er hinter den Ohren trug, hin, band die Ladenschürze ab und ging in’s Comptoir, um seinem Principal das Schicksal, welches ihn betroffen hatte, mitzutheilen.

„Das ist fatal, sagte der Materialwaarenhändler, als er einen Blick auf die Einberufungsordre seines Gehülfen geworfen hatte. „Ich wollte Ihnen die interimistische Führung meines Geschäftes übertragen, denn, wie Sie sehen, bin ich ebenfalls einberufen.“

Er schob bei diesen Worten einen Schein, der vor ihm lag, seinem überraschten Gehülfen hin.

„Sie sind wenigstens Gefreiter, während ich Gemeiner bin,“ fuhr er fort, „also erhalten Sie pro Tag einen Silbergroschen Zulage und der Wachtdienst ist für Sie nicht so unangenehm, wie für mich.“

„Und der Hausknecht Unterofficier!“ seufzte Schmitz.

Der Materialwaarenhändler zuckte die Achseln. „Daran ist nun einmal nichts zu ändern,“ sagte er ruhig, „indeß glaube ich kaum, daß man Sie bei der Fahne behalten wird; Sie sehen ja aus, als ob Sie schon Ihr Testament gemacht hätten. Lassen Sie sich untersuchen; ich bin überzeugt, man wird Sie wieder entlassen.“

Das war ein schwacher Hoffnungsschimmer, der plötzlich in die dunkle Nacht fiel. Peter Schmitz übertrug die Sorge für den Detailverkauf dem Hausknecht, über den er heute noch gebieten konnte, und eilte zu seiner Braut, um sie zu trösten und bei ihr Trost zu holen. Da wurde gar mancher Plan entworfen, aber unter all’ diesen Plänen befand sich nicht einer, der ausgeführt werden konnte.

„Ich werde Dich begleiten und selbst mit dem Major sprechen,“ seufzte Marie.

„Wozu könnte das nützen?“ erwiderte Peter. „Ich habe keine Gründe zur Reclamation.“

„Deine angegriffene Gesundheit …“

„Es ist Sache der Aerzte, darüber zu entscheiden.“

„So werde ich mit dem Arzt reden.“

„Er würde Dir die Thür zeigen.“

„Aber was soll ich denn thun?“

„Nichts; was die Schickung bringt, ertrage“

„Auch wenn die Oesterreicher Dich erschießen?“

„Nicht jede Kugel trifft.“

„Ich wollte ruhig sein und geduldig mich in Alles fügen, wenn ich nur wüßte, daß Du mit heiler Haut zurückkehrtest,“ sagte die Braut. „Laß Dich im ersten Treffen gefangen nehmen –“

[407] Purpurgluth übergoß die Wangen des jungen Mannes; diese Zumuthung kränkte seine Ehre.

„Nimmermehr!“ rief er. „Der erste Schritt ist der schwerste; ist man über ihn hinweg, so geht’s schon besser. Wenn es denn sein muß, in Gottes Namen, dann auch tapfer darauf los.“

Marie schüttelte mißbilligend das Haupt. „Ich wende dagegen nichts ein,“ sagte sie, „aber mir zu Liebe könntest Du doch versuchen, durch Reclamation oder körperliche Untersuchung Dich frei zu machen.“

„Ich will’s versuchen,“ erwiderte Peter Schmitz, „eine Reclamation fruchtet nichts, da ich keine Gründe habe, aus welche ich mich stützen kann, dagegen hoffe ich durch die Untersuchung als dienstuntauglich bezeichnet zu werden.“

Der Montag brach an, Peter Schmitz nahm von seiner Braut Abschied und wanderte zum Bahnhofe.

„Seht die Häringsseele!“ donnerte eine Stimme ihm entgegen, als er in den Wartesaal trat. „Na, Er hat sich wohl vorgenommen, zu simuliren? Wird Ihm schlecht bekommen, guter Freund; die Kriegsgesetze spaßen nicht.“

Jakob Schulz, der ehemalige Hausknecht, war es, der sich erlaubte, in diesem Tone den entrüsteten Jüngling anzureden, während die zahlreich versammelten Cameraden sofort einen Kreis um die Beiden schlossen.

„Sehe schon, was dem schlappen Kerle fehlt!“ fuhr der Hausknecht fort, ohne den drohenden Blick seines ehemaligen Vorgesetzten zu beachten. „Ihm ist noch kein Licht aufgegangen, er hat noch kein Oel auf die Lampe gegossen. Gieße Er diesen Krätzmannshäuser hinter die Binde, dann wird’s Ihm wohl werden und Er hört die Engel im Himmel pfeifen.“

„Nehmen Sie die Flasche,“ flüsterte der Materialwaarenhändler, der sich unter den Umstehenden befand, seinem Commis zu; „mit den Wölfen muß man heulen und unser Hausknecht ist augenblicklich unser Vorgesetzter.“

Mechanisch ergriff der Jüngling die Flasche. Er that einen herzhaften Zug, der den ganzen innern Menschen erwärmte und durch das raschere Wallen des Blutes den schweren Druck vom Herzen wälzte.

„So noch Einer unter Euch sich befindet, der dieser Cur bedürftig ist, möge er vortreten!“ rief Schulz. „Ich verlange als Honorar für meine Bemühungen nur, daß er die Flasche wieder füllen läßt.“

„Hier ist Stoff genug!“ entgegnete ein elegant gekleideter junger Mann, während er dem Unterofficier einen Krug überreichte. „Echter Münsterländer.“

Jakob Schulz blickte fragend den freundlichen Spender an.

„Herr Lieutenant?“ fragte er.

„Gott bewahre,“ fuhr der junge Herr fort, „ich bin Gemeiner, aber drüben an der Thür steht unser Compagnieführer.“

„Donnerwetter, das ist ja der Buchbinder, der uns die Düten liefert!“ sagte Schmitz überrascht. „Der ist Officier?“

„Er hat sein Officierexamen schon vor zehn Jahren gemacht und das Officierpatent im Jahre 1859 erhalten,“ erwiderte der Materialwaarenhändler.

Jakob Schulz hatte den Krug entkorkt und nach einem kräftigen Zuge dem nächsten Nachbar überreicht.

„Lauter Münsterländer, lauter Geldverschwender!“ sang er, dann sich hoch emporrichtend, rief er: „Stillgestanden! Rechts und links schwenkt zum Kreise, marsch!“

Willig führten die Anwesenden den Befehl aus, der Spiritus hatte seine Wirkung schon gethan.

„Leute, wir sind zu der Fahne des stehenden Heeres einberufen,“ begann der ehemalige Hausknecht, während er gravitätisch an den Spitzen seines rothen Schnurrbartes drehte. „Weshalb? Das weiß wohl Niemand, aber im Grunde ist’s auch gleichgültig, wir sind einberufen und wir folgen dem Ruf als stramme Soldaten, nicht als schlappe Schwammklöpper, denen es, wie der ehemaligen Reichsarmee, nicht darauf ankommt, ob sie heute oder morgen das Quartier erreichen. Also stramme Haltung, Kopf in die Höhe, Brust heraus! Ich bitte mir aus, daß in Ordnung und geschlossenen Reihen eingerückt wird! Wollt Ihr Euch nicht schon jetzt an Disciplin gewöhnen, was soll es später geben?“

Ein donnerndes Hoch war die Antwort aus diese improvisirte Anrede.

„Unterofficier Schulz soll unser Führer sein!“ riefen Einige und die Uebrigen stimmten ihnen bei.

„Ich nehme die auf mich gefallene Wahl an, Kinder,“ erwiderte Schulz mit herablassendem Kopfnicken. „Wer führt einen Stock bei sich?“

Sofort erschienen ein Dutzend Stöcke über den Köpfen der Versammelten.

„Wohlan, sucht den größten aus und bindet ein weißes Taschentuch an ihn, auf daß wir eine Fahne haben, die uns voranweht,“ fuhr der Unterofficier fort. „Aber hoch zu Roß muß Euer Führer an der Spitze sein, wer will mir den Liebesdienst erzeigen?“

Ein stämmiger Metzgergeselle trat vor.

„Bon, ich will Ihm die Ehre erzeigen, auf dem Bahnhofe in Düsseldorf meldet Er sich. Lieber wäre es mir gewesen, wenn Er sich dazu gemeldet hätte, Peter Schmitz, Er hat so oft auf mir geritten, daß Er mir nun wohl auch erlauben könnte, einmal auf Ihm zu reiten.“

Die Glocke läutete, die Thüren zum Perron wurden geöffnet. Jakob Schulz machte dem Posten, auf den er erhoben worden war, Ehre; er trug dafür Sorge, daß Niemand, sei es wissentlich oder unwissentlich, zurückblieb, er warnte die, welche bereits allzutief in die Flasche geblickt hatten, und reichte den zur Hälfte noch gefüllten Krug allen denen, in deren Gesichtszügen er las, daß sie sich mit dem eisernen Walten des Geschicks nicht befreunden konnten. Und als der Zug sich in Bewegung setzte, war es wieder Jakob Schulz, der das alte Volkslied: „Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus“[WS 1] anstimmte und gar manches bedrückte Herz durch den Vers: „Ueber’s Jahr, da ist meine Zeit vorbei“ aufrichtete.

Inzwischen machten die Flaschen und der gespendete Krug gar fleißig die Runde, und als der Zug an der ersten Station hielt, versäumte Niemand, seine Flasche wieder füllen zu lassen. In Düsseldorf angekommen, versammelte Schulz seine Mannschaften um sich.

„Angetreten! Stillgestanden! Man führe mein Roß vor! Rechts um! Marsch!“

Jakob Schulz saß stolz auf den Schultern des Metzgergesellen; Peter Schmitz, der bereits seine Braut, sein eigenes, noch zu gründendes Geschäft, seine blaue Ladenschürze und die Häringstonnen vergessen hatte, trug die Fahne. In wohlgeordneten Reihen marschirten die Reservisten und Landwehrmänner hinter ihrem Führer; sie hatten sich, Dank dem Geiste, der in sie gefahren war, in das Unvermeidliche gefügt und nur wenige befanden sich noch unter ihnen, die an die Fleischtöpfe Aegyptens zurückdachten. Es war eine stille, einsame Straße, in der Jakob Schulz plötzlich „Halt!“ commandirte. Er schwang sich von seinem Sitz herunter und warf einen Blick des Wohlwollens über die Köpfe seiner Cameraden.

„Nach diesen Strapazen und Mühen, liebe Kinder, dürfen wir uns eine kurze Ruhe erlauben,“ sagte er, während er auf das Schild einer Bierbrauerei zeigte.

„Aber es ist bereits zehn,“ wandte der Fahnenträger ein.

„Wäre ich nicht so gutmüthig, wie ich es leider stets gewesen bin, würde ich Ihm augenblicklich drei Tage Arrest dictiren, Er Sacramenter!“ donnerte der Unterofficier. „Denkt Er vielleicht, Er stehe noch hinter der Schnupftabakwage? Binnen fünf Minuten hat Jeder sein Glas geleert und dann geht’s weiter, verstanden?“

„Zu Befehl.“

„Er treibt mir’s zu bunt,“ flüsterte Schmitz seinem ehemaligen Principale zu.

„Lassen Sie ihn,“ erwiderte der Spender des Münsterländers, „wir kommen höchstens fünf Minuten zu spät und bei solchen Gelegenheiten darf Niemand den Spaß verderben.“

Jakob Schulz hatte nicht ohne tieferen Grund seiner Mannschaft diese Erholung erlaubt. Er war mit dem Schenkmädchen befreundet und unter den obwaltenden Umständen hielt er es für rathsam, die alte Freundschaft zu erneuern, bevor ein gefährlicher Nebenbuhler ihm zuvorkam. Nach einem Aufenthalt von fünf Minuten marschirte die kleine Schaar wieder ab. Als sie auf dem Exercirplatze anlangte, ließ der Unterofficier seine Mannschaft aufmarschiren. Der Regen goß in Strömen, nichtsdestoweniger hatte eine unübersehbare Menschenmenge sich eingefunden, um ihre Neugierde zu befriedigen. Einige Compagnien Infanterie hielten den Platz besetzt, die Zuschauer mußten sich hinter den Canal, der den Exercirplatz von der Allee trennt, zurückziehen.

[408] „Stillgestanden!“ commandirte Jakob Schulz, den das zweibeinige Roß gehorsam vom rechten zum linken Flügel trug.

„Nehmt die Richtung auf, Ihr Sacramenter! Er da, ich glaube, Er ist zu Hause Oekonom gewesen, will Er nicht so gut sein und den übermäßigen Bauch etwas einziehen? Da soll der Kuckuck eine genaue Richtung aufnehmen! Der dritte Mann mit der langen Nase zurück! Der Schneidergeselle auf dem linken Flügel vor! Er kann sich noch immer hinter seinem Nebenmann verstecken, wenn die Kugeln pfeifen.“

Jakob Schulz schien anfangs vorzuhaben, sich auf seinem zweibeinigen Roß dem Commandeur des Landwehrbataillons vorzustellen, der kaum hundert Schritte entfernt sich mit den Officieren unterhielt und das Treiben der kleinen Schaar nicht bemerkte, aber er zog es vor, den Metzgergesellen von seiner Pflicht zu entbinden und auf des Schusters Rappen sich dem gestrengen Herrn zu nähern.

„Melde mich zur Stelle,“ sagte er, als er vor dem Major stand, „ein Unterofficier und sechsundzwanzig Mann.“

Der Blick des Majors ruhte mit Wohlgefallen auf der kräftigen Gestalt des ehemaligen Hausknechts.

„Sie sind Unterofficier?“ fragte er.

„Unterofficier Jakob Schulz.“

„Und Sie haben diese Leute hierher geführt?“

„Zu Befehl, Herr Oberstwachtmeister!“

„Na, Alles in Ordnung hergegangen?“

„Alles. Es befinden sich nur noch Einige unter ihnen, die ihrer Mutter Vorrathsstube nicht vergessen können.“

„Sind Sie verheirathet?“ fragte der Major lächelnd, der an dem Manne Gefallen zu finden schien.

„Nein, aber ich war Hausknecht.“

„Hm, dann wird Ihnen die Einberufungsordre keinen Kummer bereitet haben.“

„Mir nicht, aber meinem Principal und seinem Herrn Commis, die Beide als Gemeine demüthigst in meiner Corporalschaft den Wechsel der Dinge empfinden werden.“

Der Major winkte. „Treten Sie ein mit Ihrer Mannschaft, „sagte er; „Sie scheinen Humor zu besitzen.“

„Zu Befehl, Herr Oberstwachtmeister,“ erwiderte der Unterofficier, „der Humor hilft über Alles hinweg.“

Peter Schmitz verließ seinen Principal nicht, er folgte ihm auf Schritt und Tritt, war doch der Materialwaarenhändler die einzige befreundete Seele, die er unter der großen Menge besaß. Aber vor ihm, hinter ihm und neben ihm standen auch noch Leute und er konnte ihnen nicht verbieten, daß sie ihn zur Zielscheibe ihres mitunter derben Spotts wählten. Seitdem der leichte Rausch verflogen war, hatte der Muth des jungen Mannes wieder einer gelinden Verzweiflung Raum gegeben, er gedachte seiner Braut, die mit fieberhafter Ungeduld seiner Rückkehr harrte. Er klammerte sich an die Hoffnung, daß man ihn dienstuntauglich erklären werde, wie der Ertrinkende sich an den Strohhalm klammert, durch den er sein Leben zu retten hofft.

„Wie steht’s?“ fragte Schulz, der, während die Namen verlesen wurden, bald mit diesem, bald mit jenem Cameraden einige Worte wechselte. „Ist der Muth Ihnen schon wieder entfallen?“

„Mir scheint, Sie haben den Humor auch schon verloren,“ erwiderte Schmitz.

„Bah, glauben Sie, er sei erzwungen gewesen? Halten Sie den Kopf oben; durch Ihren Trübsinn ändern Sie die Sache nicht, durch den Humor gewinnen Sie ihr eine heitere Seite ab, und das ist schon viel werth. Sie waren ja vorhin so vergnügt!“

„Das that der Münsterländer,“ sagte der Materialwaarenhändler.

„Ach ja,“ fuhr Schmitz fort, „leider ist der Krug geleert und auch in meiner Flasche findet sich kein Tropfen mehr, aber ich will die Flasche drüben füllen lassen.“

„Zurück!“ rief der Infanterie-Sergeant, als Schulz den Versuch machte, den Platz zu verlassen. „Sie müssen hier bleiben, bis es dem Bataillon erlaubt wird, die Quartiere aufzusuchen.“

„Lieber Freund, ich komme ja wieder,“ wandte Schulz ein. „Ich will nur die Flasche füllen lassen, denn sehen Sie, wenn der Mensch auswendig naß wird, soll er es auch inwendig werden, weil er es sonst nicht auszuhalten vermag.“

Der Sergeant schüttelte den Kopf; Schulz trat zurück.

„Das ist unangenehm,“ sagte er, „aber der Mensch soll in den Zeiten der Noth nicht verzagen.“

Er blickte sich um; jenseit des Canals standen die Zuschauer noch immer. Der Unterofficier besann sich nicht lange, er hielt die leere Flasche empor und schleuderte sie darauf über den Canal hinüber.

„Wollte die Infanterie Sie nicht durchlassen?“ fragte in diesem Augenblick ein bärtiger Landwehrmann den Unterofficier.

„Nein, Niemand darf den Platz verlassen,“ erwiderte Schulz.

„Aber drüben ist meine Frau.“

„Wo?“

„Sehen Sie dort auf der anderen Seite des Canals die beiden Frauen? Ich muß zu ihr; sie hat den weiten Weg gemacht, um noch einmal Abschied von mir zu nehmen.“

„So versuchen Sie’s.“

Der Landwehrmann ging; er kehrte gleich darauf mißmuthig zurück, und zwar in demselben Augenblick, in welchem die gefüllte Flasche des Unterofficiers über den Canal zurückgeworfen wurde.

„Nun?“ fragte Schulz, während er seinem ehemaligen Vorgesetzten die Flasche reichte.

„Man will mich nicht durchlassen.“

„So müssen Sie sich gedulden.“

„Das ist hart, sehr hart.“

Schulz zuckte die Achseln. „Können Sie schwimmen?“ fragte er.

Der Landwehrmann bejahte.

„Na, der Canal ist doch wahrhaftig nicht so breit wie der Rhein und naß sind Sie ohnedies bis auf die Haut.“

Der Landwehrmann nickte zustimmend und sprang, ehe die Soldaten es verhindern konnten, in den Canal. Er schwamm hinüber, umarmte seine Frau und kehrte nach wenigen Minuten auf demselben Wege zurück.

„Sehen Sie, das nenne ich Muth,“ sagte Schulz, „aber nun geben Sie Acht, unser kleines Contingent wird verlesen.“

Das Bataillon war formirt, der Major forderte alle Diejenigen, die sich dienstuntauglich hielten, auf, vorzutreten.

Peter Schmitz und dessen Principal befanden sich unter denen, die dieser Aufforderung Folge leisteten.

Der Unterofficier blickte ihnen, als sie zur Caserne abmarschirten, in welcher der Arzt ihrer harrte, kopfschüttelnd nach.

In der Seele Peter’s war die Hoffnung neu erwacht; er glaubte in diesem Augenblick selbst, ein unheilbares Uebel zu besitzen. Er war einer der Ersten, welche untersucht wurden. Der Arzt blickte ihn eine geraume Weile forschend an.

„Wo fehlt’s?“ fragte er kurz angebunden.

„In der Brust,“ erwiderte Peter leise mit zitternder Stimme.

„Hm, unter Hundert, die sich zur Untersuchung melden, leiden in der Regel neunundneunzig an Schwindsucht,“ fuhr der Arzt fort, während er bedächtig eine Prise nahm. „Sie haben wohl auch die Schwindsucht?“

„Ich glaube, ich habe sie schon vor einigen Jahren einmal gehabt.“

„In der That? Ah, wenn Sie damals curirt wurden, wird man Sie auch jetzt curiren können.“

„Aber ich fühle mich vollständig unfähig, einen weiten Marsch zu machen,“ wandte Schmitz ein, „ich habe stets Seitenstechen und Brustschmerzen, Athemnoth und Husten.“

„Sie armer Schelm!“ spottete der Arzt, während er die Brust des jungen Mannes untersuchte.

„Man hat mir schon oft gesagt, daß ich an der Schwindsucht leide,“ fuhr Peter, durch die Antwort des Arztes, in der er den Spott nicht herausfand, ermuthigt, fort; „ich sehe auch stets leidend und angegriffen aus.“

„Lieber Freund, man legt weniger Werth auf den Anstrich, als auf den soliden Bau,“ erwiderte der Arzt. „Haben Sie Familie?“

„Meine Eltern und zwei Brüder.“

„Keine Frau?“

„Nein, aber ich gedenke in der nächsten Zeit zu heirathen.“

„Dann trösten Sie sich mit denen, die Weib und Kinder zurücklassen müssen, und marschiren Sie getrost mit.“

Betroffen blickte Peter’ den Arzt an. „Ich bin also tauglich?“

„Wäre Jeder so tauglich wie Sie, dann würden die Lazarethe weniger in Anspruch genommen werden.“

„Aber ich habe auch schon an Rheumatismus gelitten.“

Der Arzt öffnete die Thür. „Unterofficier, führen Sie den Mann zum Bataillon zurück,“ sagte er kurz angebunden, „und [409] was Sie betrifft, so rathe ich Ihnen, keine weiteren Versuche anzustellen, das Leben im Lazareth kann unter Umständen sehr unangenehm gemacht werden.“

Die Hoffnung war geschwunden, die Braut Peter’s harrte vergeblich der Rückkehr ihres Verlobten. Aber die Cameraden sollten keine Ursache haben, ihn abermals zur Zielscheibe ihres Spottes zu wählen; Peter Schmitz trat mit erhobenem Haupte und einem Lächeln auf den Lippen, welches seinem Denken und Fühlen allerdings fremd war, in die Reihen zurück. Vorzüglich fürchtete er die beißenden Bemerkungen des ehemaligen Hausknechts, indeß enthielt dieser sich des Spotts.

„Fehlgeschlagen?“ fragte Schulz.

„Ja, ich hatte es nicht erwartet,“ erwiderte Peter mit erzwungener Ruhe; „nun mir aber der Arzt gesagt hat, daß ich körperlich gesund sei, will ich gerne die Muskete tragen.“

Der Unterofficier zuckte die Achseln, er wußte, wie er diese Antwort zu nehmen hatte. Die Quartierbillets wurden jetzt ausgegeben; Schulz und Schmitz erhielten eine Anweisung auf ein sogenanntes Massenquartier, in welchem fünfundvierzig Mann gespeist und beherbergt werden sollten.

„Wenn Sie den Principal noch einmal sehen und ihm Grüße mitgeben wollen, so kommen Sie heute Abend an den Bahnhof,“ sagte Schulz im Laufe des Nachmittags zu seinem Cameraden, „ich habe gehört, er sei wieder entlassen und werde mit dem vorletzten Zuge heimkehren.“

„Entlassen?“ Der Neid regte sich in der Seele des Jünglings.

Als die Beiden am Abend zum Bahnhof kamen, stand der Zug schon zur Abfahrt bereit, der Materialwaarenhändler saß bereits im Coups zweiter Classe und blickte stillvergnügt den blauen Dampfwölkchen seiner Cigarre nach.

„Wie haben Sie das nur angefangen?“ fragte Peter unmuthig.

„Lieber Freund, es ist die einfachste Sache von der Welt, ich bin so glücklich, eine Krampfader zu besitzen.“

„Eine Krampfader? Davon habe ich nie etwas gewußt.“

„Glauben Sie, ich sei verpflichtet gewesen, das an die große Glocke zu hängen?“ erwiderte der Materialwaarenhändler. „Gehen Sie getrost mit; vorläufig haben Sie nichts zu verlieren, ich werde Ihre Braut von Ihnen grüßen und Sie, soviel ich kann, unterstützen. Adieu!“

Der Inspector gab das Zeichen, die Locomotive pfiff, der Zug setzte sich in Bewegung. Peter Schmitz blickte ihm nach, bis der letzte Waggon seinem Blick verschwunden war, dann kehrte er, Arm in Arm mit dem ehemaligen Hausknecht, in sein Quartier zurück.
E. A. K.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. z. B. „Muß i denn, muß i denn“ (Heinrich Wagner)